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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina Stein
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sie erstellen sollen. Vielleicht ist sie wirklich ihre einzige Chance, Anna zu finden.

Dienstag, Tag 5, Anna

    D ie Enge des Badezimmers, nicht mehr als 2,5 Quadratmeter werden es sein. 2,5 Quadratmeter, in denen ich versuche, meine Beine auszustrecken. In denen ich den Kopf gegen die kühlen Fliesen lehne und mich nicht ekeln will – sie sind so alt, diese 2,5 Quadratmeter, der Staub der Zeit ist längst zu einer klebrigen Kruste auf den Kacheln geworden.
    Mit der Zunge taste ich über meine Lippe und fühle ein Herpesbläschen, das immerzu pocht. Ich hoffe, ich sehe hässlich aus, wie eine, die man nicht küssen will. Ich weine leise, stumme Tränen, ich atme durch den Spalt des Milchglasfensters, schaue auf die Ähren hinter den Tannen, die Vögel auf dem Schieferdach. Möchte schreien, brüllen. Und doch weiß ich, dass das nicht geht. Weil er mich an den Haaren aus meinen 2,5 Quadratmeter herauszerren würde. Weil er das Messer in der Hand hält.
    Ich mache Kniebeugen: 21, 22, 23. Man muss die Zeit nutzen, ganze 20 Minuten alleine zu sein, muss bedeuten, Pläne zu schmieden. Darf nicht bedeuten zu heulen, sich zu bemitleiden, die Kacheln an der Wand zu zählen. Ich darf mir einen Kampf mit ihm nicht bloß vorstellen. Denn dazu wird es kommen, natürlich.
    Ich halte es nicht mehr aus! Und es ist ja nicht so, als gäbe es nichts in diesem Zimmer, mit dem ich ihn schlagen könnte. Die Nachttischlampe. Das Glas auf dem Tisch, das könnte ich zerschmettern, ihm mit einer Scherbe die Pulsadern aufschneiden. Ich weiß genau, wie man schneiden muss, wo die Aorta verläuft.
    Und er sagt, er liebt mich. Er würde mir nicht wehtun, er braucht mich.
    Nein, Anna, nein! Du machst dir was vor. Er ist stärker. Schreckt nicht davor zurück, dich zu verletzen. Mit der Säge oder der scharfen Klinge. Dich anzuritzen. Dir mit der Faust direkt ins Gesicht zu schlagen. Sein Blick, immerzu dieser Blick. Seine blauen Augen. Selbst jetzt wird er die Badezimmertür anstarren, die Ohren spitzen. Stellt die Glotze jedes Mal leiser, um sicherzugehen, keine Schluchzer zu überhören.
    Meine Fingerkuppen tasten über die verklebten Kacheln. Ich suche nach einer losen, die ich herausbrechen kann. Damit könnte ich nach ihm werfen. Ihn am Kopf treffen. Er könnte taumeln, an der Schläfe bluten. Ich könnte dorthin treten, immer und immer wieder, weiter und immer weiter. Bis sein Gehirn zermatscht ist.
    Der Rotz in meinem Gesicht. Gleich wird er sehen, dass ich geheult habe. Aus der Nase läuft der Rotz, hinunter auf die Lippen, weicht das Herpesbläschen auf.
    Stillstand. Hoffnung. Da, hier. Eine der Kacheln. Sie gibt nach, in der untersten Reihe. Sie wackelt, ich kann sie nach hinten drücken. Ich halte sie in der Hand, die Kachel, atme leise, mein Herz klopft wild. Aus dem Zimmer nehme ich die dumpfen Töne des Fernsehers wahr.
    Wie viel Zeit habe ich noch? Zehn Minuten oder bloß fünf? Wie viel Zeit hab ich mit Heulen verplempert?
    Ich starre auf das Loch in der Wand, etwas liegt dahinter. Ein Buch, mit einer dicken Staubschicht darauf. Auf der Innenseite eine geschwungene Handschrift: Idas Tagebuch. Bitte nicht lesen! Ich blättere um, es riecht nach altem Staub:
    Idas Tagebuch
    30. Oktober 1941
    Papa schenkte mir das Tagebuch, ich besaß noch nie eines. Er drückte es mir in die Hand und sagte: Schreib. Vielleicht geht es dir dann besser.
    Das war gestern, acht Tage, nachdem es passiert ist.
    Die dunklen Flecken an meinen Handgelenken sind fast verschwunden. Auch die Tage werden kürzer, und die Nächte sind kalt, kündigen den Winter an.
    Vor ein paar Tagen habe ich meine Periode bekommen. Ich weinte, weil ich so erleichtert war. Eine Angst fiel von mir ab, die noch größer war als in dem Moment, in dem sie mich gepackt hatten. Was denkt man schon in so einem Moment? Ich dachte: Die wollen dich bloß ärgern, Angst machen wollen sie dir. Der Geruch von Heu in meiner Nase, gleich hinter den großen Ballen hielten sie mich auf den Boden gedrückt. In Heinrichs Haar war Stroh. Blond ist es, wie meines. Man könnte meinen, wir wären Bruder und Schwester, lachte er einst.
    »Geh morgen in die Schule«, sagte Papa. Über die Haare strich er mir dabei, um die Augen hat er diese tiefen Falten. »Ich bring dich hin, Ida, und hol dich wieder ab. Das machen wir jetzt so.«
    »Du musst doch arbeiten, Papa.«
    Er streichelte meine Hand, er sagte: »Ich hol dich in der Mittagspause ab. Das machen wir jetzt so.«
    31. Oktober 1941
    Aber ich bin

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