Stumme Angst (German Edition)
hat.
Doch das wird schon, bestimmt! Sie hat eine Flasche Weißwein kalt gestellt. Oder ob er lieber Bier mag …? Daran hat sie nicht gedacht, wie konnte sie das nur vergessen?
»Komm rein«, sagt sie wieder. »Die Schuhe kannst du ruhig anlassen.«
»Geht schon. Ist so warm.«
Während er das Wohnzimmer betritt, betrachtet sie seine nackten Füße. Schmale Füße sind es, ungewöhnlich schmal für einen Mann. Irgendwie niedlich sehen sie aus, gepflegt.
Man kann sich nicht aussuchen, wen man liebt. Hast du das nicht selbst gesagt, Anna?
Was ich mich frage: Ob du überhaupt schon mal richtig geliebt hast. Ob du eigentlich weißt, wie das ist. Oder ob du bloß Trophäen sammelst, alle paar Monate eine neue. Ein neues Gesicht, das dir sagt, wie schön du bist. Wie schlank und klug und all das.
Am Anfang, da war es anders. Als wir uns kennenlernten. Da hab ich aufgeschaut zu dir, weil du so frei bist. Weil es niemanden gibt, der dir über die Schulter schaut. Denn Selma – die zählt nicht. Die lebt ja genauso freizügig wie du! Nur irgendwann ändert sich das. Da denkt man sich: wie albern, schon wieder ein Neuer, den man kennenlernen muss, dem man lauter nette Fragen stellen muss.
Liam geht durch das Wohnzimmer hinaus auf den Balkon. Er tut dies mit einer Zielsicherheit, als würde er den Notausgang suchen. Ein wenig verletzt sie das, denn sie ist es gewohnt, dass ihre Gäste im Wohnzimmer stehen bleiben und die antike Anrichte bestaunen, den barocken Spiegel, das Porträt ihrer Großmutter im Stuckrahmen. Die alten Familienerbstücke hat sie mit modernen Einrichtungsgegenständen gemischt: einer futuristischen Lampe, einem lilafarbenen Sofa. Manchmal fragen ihre Besucher, warum sie nicht Innenarchitektur studiert, dafür hätte sie doch ein Händchen! Aber ihm fällt das nicht auf – er will lieber rauchen. Sie holt ihm schnell einen Aschenbecher und setzt sich an den Bistrotisch.
»Wie geht’s dir?«
Er schluckt und kneift die Augen zusammen. Zwar liegt der Balkon am Abend im Schatten, doch noch immer ist es hell, der Himmel strahlend blau.
Er steht da und starrt vor sich hin. Als hätte er ihre Frage nicht gehört.
Gibt es einen Grund, fragt sie sich, warum er so abweisend ist? »Hast du was Neues gehört?«
Seine Augen sind blau und schauen sie immer so an, dass ihr der Gedanke kommt, sie wäre ein lästiges Insekt.
»Der Hauptkommissar hat angerufen. Aber nur um zu fordern, dass ich mich raushalten soll aus den Ermittlungen. Das würde stören . Das würde Einfluss auf ihre Befragungen nehmen.«
»Bitte? Aber du intervenierst doch nicht wirklich …«
Wieder trifft sie dieser Blick. Seine Geringschätzung ist fast greifbar. Himmel. Was war an dieser Frage falsch gewesen?
»Na ja«, sagt er etwas versöhnlicher. »Ich gehe wie die Bullen die Liste durch. Aber ich bin schneller. Mit Torben sprach ich vor ihnen, mit Björn auch. Das gefällt denen halt nicht.«
»Ja und? Was heißt das jetzt genau? Sie können dir ja wohl nicht verbieten, ein paar Leute anzurufen.«
Schwerfällig atmet er ein. Nimmt dann den letzten Zug von seiner Zigarette und schnippt sie über den Balkon hinaus in den Innenhof. Den Aschenbecher hat er gar nicht benutzt.
So etwas ist das Einzige, was sie nicht an ihm mag. Dass er seine gute Kinderstube vergisst. Dass er Bullen sagt statt Polizei. Und die Art und Weise, wie er über den jungen Kommissar spricht. Natürlich – sie mag ihn auch nicht sonderlich, findet ihn proletenhaft, hält ihn für inkompetent. Aber wie Liam das formuliert: Mr Prollo . Manchmal sagt er auch Arschloch und redet selbst wie ein Prolet. Aber irgendwie gefällt ihr das auch. Manchmal stellt sie sich vor, dass er so liebt – mit dieser stillen, energischen Wut.
Sie haben zu essen begonnen, den ersten Schluck Weißwein getrunken. Und ihr Gespräch stockt, wie so oft. Weil sie sich einfach nicht traut, offen zu sprechen. Weil sie Angst hat zu erröten.
Die Salatblätter schiebt er bloß von der einen Seite zur anderen, nur die Tomaten und die Pinienkerne pickt er heraus. Die Quiche lässt er zur Hälfte stehen, und sie traut sich nicht zu fragen, ob sie ihm nicht schmeckt. Oder ob er einfach nur müde ist.
Gedankenverloren starrt er hinaus auf den Hof. In seiner Mitte steht eine große Kastanie, die lange Schatten wirft. Genau wie die Wimpern seiner Augenlider. Wie winzige Theatervorhänge sehen sie aus. Marie fragt sich, wie sie sich anfühlten, würde sie mit den Fingerspitzen darüber
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