Stumme Angst (German Edition)
Telefon klingelt. Dass es sie noch gibt: die Tür zu der anderen, normalen Welt.
Er reagiert schneller, als ich gedacht hätte. Schleift mich zum Badezimmer, schließt ab. Danach höre ich ihn schnellen Schrittes das Zimmer verlassen, laut zu schreien, wird sich nicht lohnen. Denn ich höre nicht mal seine eigene Stimme – wer sollte mich dann wahrnehmen können durch die Leitung. Doch was man möchte und was man tut, sind zwei verschiedene Sachen. Ich kann die Tränen nicht zurückhalten. Auch nicht das Hämmern gegen die Tür. »Lass mich raus«, schreie ich, »lass mich endlich raus!«
Ich will ihn nicht spüren: nicht seinen Atem, nicht seine Hände. Ich stelle mich unter die Dusche, möchte ihn jetzt schon von mir abwaschen.
Irgendwann poltert seine Stimme: »Komm endlich raus. Was hockst du da so drin.«
Dass ich mich zusammengekauert habe, gefällt ihm nicht.
»Gib mir ein T-Shirt«, fordere ich. »Und eine Hose.«
Er holt zum Schlag aus. Weil ich so mit ihm spreche. Weil ich nicht gesagt habe, wer der Chef ist. Doch er hat das Messer vergessen und ich schlage zurück. Rücklings knallt er auf die Toilette. Ich springe auf, will an ihm vorbeirennen. Aber natürlich ist er schneller, packt mich am Knöchel, und ich falle hin, genau wie er.
Sie prasseln herab. Fausthiebe: wie schwere, nicht enden wollende Hagelschläge.
Irgendwann liegt man bloß noch da. Mit Augen, die man nicht mehr öffnen kann. Einem Körper, der bloß noch eine leere Hülle ist.
Nur hören, das kann ich noch. Aber ich wünschte, auch das ginge nicht mehr. Ich würde nicht wahrnehmen, dass er sagt: »Eben am Telefon. Das war Liam.«
Donnerstag, Tag 7, Marie
M al sehen« hat er auf ihre Frage hin, ob er zum Abendessen kommen würde, gesagt. Mal schauen. Er würde sich melden.
Irgendwann hat er das auch getan, aber erst vor einer Stunde! Wie hat er sich das vorgestellt? Sie hätte vielleicht noch etwas einkaufen müssen!
Aber natürlich hat sie das längst erledigt. Die Quiche steht zum Abkühlen auf der Anrichte. Im Sommer isst man lieber was Kaltes. Etwas, das nicht so schwer im Magen liegt. Und dazu einen Salat. Es soll nicht so aussehen, als hätte sie sich ewig Gedanken über die Mahlzeit gemacht! Als hätte sie Kochbücher durchforstet. Es soll spielerisch aussehen wie etwas, das man nebenbei macht.
Auch im Bad ist sie fast fertig. Sie betrachtet ihre Brüste, groß und voll schwimmen sie zwischen dem Schaum in der Wanne. Sie streicht über sie, sie fühlen sich weich an.
Sie hat sich die Beine rasiert, glatt fühlen sie sich an, schön. Und abgenommen hat sie auch. Zwei Kilo, um genau zu sein. Ob ihm das aufgefallen ist?
Ihre Zehen beginnen zu schrumpeln, sie steigt aus dem Wasser. Tupft Creme auf Gesicht und Unterschenkel, für alles andere ist es zu heiß.
Sie hat noch eine Stunde, ehe er kommen wird. Eine Stunde, in der sie den Tisch decken und die Salatsoße anrühren wird. Eine Stunde, in der sie versuchen wird, alles zu tun, außer an Anna zu denken.
In Slip und BH tritt sie ins Wohnzimmer, betrachtet sich in dem Spiegel, der dort hängt. Zum ersten Mal seit langer Zeit findet sie sich hübsch. Ihre Unterwäsche ist neu: schwarze Spitze mit einem verspielten Blumenmuster. Sie will nicht länger diese graue Maus sein.
Entschlossen greift sie nach ihrer Geige. Beruflich hätte sie sich besser für die Musik entschieden. Das ist etwas, was sie kann – vielleicht ist sie kein Genie, aber wenn sie spielt, kann sie alles um sich herum vergessen. Nicht so wie im Hörsaal. Wo sie die anderen beobachtet und sich ständig fragt, ob sie mehr Leistung bringen als sie selbst.
Denk an nichts, Marie, denk an nichts!
Sie schließt die Augen und beginnt zu spielen.
Es klingelt, endlich klingelt es! Eine Stunde ist er zu spät, doch was soll’s! Ihr Bauch verkrampft sich vor Freude. Sie wirft einen letzten Blick in den Spiegel. Der Lippenstift, findet sie plötzlich. Der ist zu viel. Eilig wischt sie ihn fort. So ist es besser.
Er riecht nach Sommer und einer frischen Dusche. Aber müde sieht er aus, abgekämpft, mit tiefen Ringen unter den Augen. Am liebsten würde sie ihm über die Wange streichen und sagen: Komm, das wird schon. Stattdessen umarmt sie ihn nur. Doch sie spürt, dass er das nicht mag, und lässt ihn schnell wieder los.
»Du warst noch nie hier«, stellt sie fest und streichelt Kapitän, der an ihr hochspringt.
»Stimmt«, presst er heraus, das einzige Wort außer Hallo, das er bislang von sich gegeben
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