Stumme Angst (German Edition)
streichen.
»Du hast aber nicht wirklich vor, die Kommissare so ernst zu nehmen, oder? Wie ich dich kenne, wirst du einfach so weitermachen wie bisher?«
Er schaut sie an, über das Glas Weißwein hinweg, und wieder hat sie das Gefühl, dass er sie spöttisch betrachtet.
Wie ich dich kenne . Wie bescheuert sich das auch anhört!
Sie starrt auf ihren leeren Teller, während er spricht.
»Klar mach ich weiter. Soweit ich kann. Das Problem ist nur, dass es bei zwei Namen keinen Kontakt gibt.«
Er hält inne und greift in seine Hosentasche. Zieht ein Stück Papier heraus und faltet es auseinander.
Er trägt diese idiotische Liste also die ganze Zeit bei sich! Den Namen Natan hätte sie gar nicht erst darauf notieren sollen. Aber sollte die Polizei Anna wirklich finden – wie würde sie dann dastehen?
»Hier …«, er faltet den Zettel auseinander. »Du kennst die Liste. Du hast sie erstellt . Elias, Natan und Sebastian. Alle ohne Kontaktangabe.«
Sie greift nach dem Papier und schaut auf die Namen, um ihm entgegenzukommen. Dennoch kann sie sich ein Seufzen nicht verkneifen.
»Aber selbst wenn«, beginnt sie vorsichtig. »Ich meine, wenn da eine Telefonnummer stünde, eine Mail-Adresse. Dass Anna mit diesen Typen zusammen war, ist Ewigkeiten her. Glaubst du wirklich …«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll!«, herrscht er sie an.
Etwas in ihr erstarrt. So wie vor ein paar Tagen, als er die Vase zertrümmerte. Warum bist du nur so jähzornig, Liam?
Sie bleibt still sitzen, während er nach einer weiteren Zigarette greift. Erst nachdem er ein paar Züge genommen hat, sagt er: »Tut mir leid.«
»Schon gut.«
Sie steht auf und bringt die Teller in die Küche. Stellt sie in die Spüle und lässt kaltes Wasser laufen. Will sich den Schweiß von den Händen waschen, der dort festklebt, egal, wie oft sie sich die Handinnenflächen an Rock oder Hose abstreift. So wie bei Lady Macbeth. Will these hands never be clean?
Nein, Marie, das ist was anderes! Du kannst nichts dafür, dass Anna fort ist. Du weißt nicht genau, was passiert ist. Eine Gestalt in der Nacht, das ist alles, was du gesehen hast. Und das zählt nicht!
Als sie zurück auf den Balkon tritt, lässt sie die Tränen laufen. Doch sie weiß nicht mal, ob sie ihm auffallen. Falls ja, schaut er an ihnen vorbei auf den Sandkasten im Hof. Ein kleiner Junge sitzt dort und schaufelt Sand in einen Eimer, die Mutter daneben.
»Dieser Natan«, sagt Liam endlich. »Was weißt du über ihn? War er Student?«
Sie wünschte, es wäre schon dunkel. Die Nacht würde ihre Gestalt verschlucken. So wie damals, als sie ihn sah. Seine schmale Gestalt, die sie bloß erkannte, weil er später in den Schein der Straßenlaterne trat. Und weil er diesen typischen Gang hat. Wie einer, der einsam ist und langsam geht, unentschlossen, weil er nicht weiß, welche Richtung er einschlagen soll. So wie sie selbst.
Sie erschrickt – diesmal ist sie es, die auf eine Frage zu spät reagiert. Was hatte Liam gefragt? Ob Natan studiert?
»Ich weiß nicht mehr so genau … Ich glaube, er hat fotografiert. So wie du.« Sie versucht es mit einem Lächeln. »Und gemalt hat er auch.«
»Wo wohnt er denn?«
»Hier in der Stadt. In einem Vorort. Und Anna hat mir mal seine Website gezeigt. Da hatte er seine Vita stehen, ein paar Beispiele seiner Bilder …«
»Das ist doch was. Ein Anhaltspunkt. Jetzt müsste dir nur noch sein Nachname einfallen.«
Er schenkt ihr ein kurzes Lächeln, eine Art Fleischbrocken, den man einem treudoofen Hund vor die Schnauze hält: Mach weiter und du kriegst mehr.
Sie wünschte, sie würde sich nicht immer an alle Details erinnern. Nicht immer alles aufheben: Jede Mail, jede Telefonnummer, jede Adresse. Doch wenn man nicht viel zum Festhalten hat, behält man diese Dinge eben bei sich.
Wieder betrachtet sie ihre Hände: Sie sehen gepflegt aus, French Maniküre. Hat sie sich extra machen lassen, im Nagelstudio nebenan. Weil Geld noch nie wirklich eine Rolle gespielt hat. Nur auf der Innenseite, da sind die Hände schon wieder feucht.
Sie könnte ihn verraten, Natans Nachnamen. Diesen bescheuerten Allerweltsnamen. Mayer .
Vielleicht hat sie sich ihn eingeprägt, weil sie schon damals dachte: Natan Mayer. Mit so einem Namen kann man doch keine Künstlerkarriere starten. Da nimmt einen niemand ernst.
Sie betrachtet Liam, er raucht wieder. Sie will ihn einfach nur hierhaben, so lange es geht. Den Spieß kann sie genauso gut umdrehen: ihm einen Brocken
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