Stumme Angst (German Edition)
freuen!« Sie kicherte hinter vorgehaltener Hand. »Komm rein.«
»Lieber nicht. Muss ihn nur kurz etwas fragen. Wegen der Schule, verstehst schon.«
Sie prustete: »Die Schule, jaja!«
Heinrich sah verlegen aus und griff schnell nach seiner Jacke. Sein Scheitel war verrutscht, als hätte er gebalgt.
»Bringst du mich nach Hause?«, fragte ich.
Er trottete neben mir her wie ein dummes Kalb. Ich hielt den Lenker meines Fahrrades umklammert, als könnte er Halt bieten. Ich wollte die letzten Häuser hinter uns lassen, bevor ich mit der Sprache rausrückte. Am Horizont wurden die letzten Sonnenstrahlen verschluckt.
»Ida.« Seine Berührung war vorsichtig, ich blieb stehen und weinte. Er starrte auf die Straße.
»Es tut mir leid. Bitte, glaub mir. Es tut mir leid.«
»Wie konntest du es zulassen. Dass die anderen …!«
Ich sprach nicht zu Ende, versteckte das Gesicht hinter den Händen. Er wollte mich in den Arm nehmen, ich stieß ihn fort.
»Ich bin schwanger!«, fuhr ich ihn an. Ich brüllte das fast, ich spuckte, ich hasse ihn!
Er blieb still stehen, eine Weile, sein Blick war auf irgendeinen Punkt in der Dunkelheit gerichtet.
Mein Rad war umgefallen, ich hob es auf.
»Dann heirate mich.«
Ich ließ zu, dass er meine Wange streichelte.
Mag sein, dass ich vorerst sicher bin! Mag sein, dass er keinen Verdacht schöpft. Aber ich verabscheue ihn wie eine widerliche, fette Spinne! Die man tottreten mag, vor der man sich ekelt, selbst wenn sie längst verreckt ist.
Immerhin, er versicherte mir, ich müsste nicht bei seinen Eltern wohnen. Er versteht, dass ich mich um Papa kümmern muss, der sonst keinen hat.
Zum Abschied wollte er mich küssen, aber ich ließ ihn stehen und ging ins Haus. Papa muss alles erfahren. Doch nicht heute, ich habe keinen Mut. Schlecht ist mir, hab mich erbrochen. Ich will schlafen, nur schlafen. Mein Abitur – ob ich das noch machen kann, mit einem dicken Bauch?
Ich lege das Buch aus der Hand und bitte Natan um ein Glas Wasser, das er mir reicht.
Zwischen uns bleibt es still. Während ich trinke, schaue ich hinaus in den Abend. Bald wird die Sonne untergehen; ich wünschte, ich könnte hinaus und die Farben am Horizont betrachten. So wie ich bin, würde ich hinausgehen: im T-Shirt, die Haare fettig, die Augenlider verklebt, die Lippe verkrustet. Gerne würde ich ihm sagen: Es ist, als würde sie nicht über Heinrich, sondern über dich sprechen – einen Menschen mit zwei Gesichtern. Ein hässliches und ein sanftes.
Ob ihn sein Vater auch geschlagen hat? So wie Heinrich von seinem Vater geschlagen wurde? Ob sich das weitervererbt, vom Urgroßvater zum Vater? Oder ob Jakob sein Großvater war?
»Das heißt also, dass Jakob dein Großvater ist …?«
Er springt auf, nimmt mir das Buch aus der Hand und knallt es missmutig in die Ecke.
»Was weiß denn ich! Hab noch ’nen Onkel: Oskar. Der ältere Bruder meines Vaters. Den ich nur ein paar Mal gesehen hab, zuletzt auf der Beerdigung von Oma.«
»Und? Meinst du …?«
»Ach Anna, halt doch die Fresse! Was sind das immer für Fragen? Meinst du? Weißt du? Vielleicht …?«, äfft er mich nach.
Die Zeit verstreicht, Schatten beginnen durchs Zimmer zu wandern. Ich zwinge mich, zum Fenster zu schauen. Dieses kleine Rechteck Freiheit. Schau dorthin, Anna. Stell dir den Himmel vor, das Weizenfeld, den Wind auf deinem Gesicht. Stell dir all das vor, bloß nicht, dass er dich wieder berührt.
Auf der Tanne landet eine Krähe und beginnt zu krächzen. Ob es dieselbe ist wie gestern Abend?
»Darf ich auch ans Fenster?«
Er betrachtet mich wie einen lästigen Gegenstand. Doch schließlich löst er die Fessel vom Bettrahmen, treibt mich wie ein Stück Vieh vor sich her. Das Messer hält er wieder in der Hand.
Den Sonnenuntergang zu betrachten, hat seinen Preis. Zu nah presst er sich heran, hält mich dicht umarmt: Mit dem einen Arm umfasst er meine Brust, mit dem anderen die Taille. Der stumme Mann lacht und wirft Steine in meinen Bauch.
Leg es weg!, möchte ich ihm sagen. Leg das Messer endlich weg! Doch weg ist bloß die Krähe, die Tanne bleibt leer. Sein Atem kitzelt in meinem Nacken, er schiebt mir die Haare zur Seite, damit er Platz für einen Kuss hat.
Nicht, möchte ich sagen. Nicht.
Aber was wird das schon ändern. Nichts wird es ändern, es sei denn, man schließt die Augen und sieht nur noch Dunkelheit.
Ein Geräusch zerschneidet unvermittelt die Stille, und ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass ein
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