Stumme Angst (German Edition)
Saxophon.
Richtig, für Porträtaufnahmen hatte er einen Blick, deswegen machte er auch dieses Bild von Anna im Café.
»Ich glaube, das ist er …«, beginnt sie und lässt zu, dass Liam ihr die Maus aus der Hand nimmt.
Als Erstes schaut er ins Impressum: Seine Mail-Adresse und Mobilnummer stehen dort.
»Danke, Marie.«
Sie kann sich nicht erinnern, dass er sie schon mal berührt hat, die Hand auf ihrer Schulter fühlt sich warm an. Aber eigentlich möchte sie, dass er geht, kann die Vorstellung nicht ertragen, dass seine Knie schon nach kurzer Zeit wieder zu wippen beginnen. Sie steht auf, schenkt sich Weißwein nach.
»Möchtest du …?« probiert sie es – doch er sitzt versunken da, ruft ein Bild nach dem anderen auf.
Warum hast du der Polizei auch nicht gleich was gesagt, Marie! Natürlich wollte sie es. Gleich nachdem Liam anrief, wollte sie es. Doch wie es ihnen erzählen? Dass sie Natan gesehen hatte, weil sie selbst vor Annas Wohnung gestanden hatte?
Aber sie hatte dort nicht gelauert – nicht so wie Natan, dieser kranke Stalker. Der sich tief im Gebüsch verkrochen hatte. Weiß der Himmel, was er dort getrieben hatte. Vielleicht wollte er näher an das geöffnete Fenster herankommen. Gesprächsfetzen aufschnappen, einer Berührung nah sein.
Doch sie war bloß spazieren gegangen, an Annas Wohnung vorbei, erst später war sie ein paar Mal auf der Bank am Fluss sitzen geblieben und hatte hoch zu ihrem Fenster geschaut. Und was ist schon dabei, wenn man sich vorstellt, wie zwei Menschen sich lieben? Wo soll man auch hin, wenn alle Abende gleich sind, alle Nächte, die Tage? Wenn man sich nicht aussuchen kann, wen man liebt?
»Ich find die Bilder gut«, meint Liam in die Stille hinein.
»Und schau. Hier ist eins von Anna.«
Sie blickt ihm über die Schulter, bewundert die Aufnahme, an die sie sich gut erinnern kann. Natan war es gelungen, einen Charakterzug von Anna einzufangen.
Ihr Blick ist zur Seite gerichtet, das Kinn auf die Hand gestützt, so als würde sie sich ein wenig langweilen. Als wäre ihr die Anwesenheit ihres Gegenübers egal. Immer sind es bloß ihre eigenen Gedanken, die zählen.
»Ich ruf den jetzt an«, sagt Liam, sein Handy schon in der Hand.
»Kannst du laut stellen?«
Er nickt, drückt auf eine Taste neben dem Display. In der Leitung tutet es, und schon ist er aufgebaut, ein Gesprächstunnel zu Natan. Marie nimmt einen kräftigen Schluck Wein. Warum hat sie auch nicht besser nachgedacht? Sich noch eine Nacht Zeit gelassen, bevor sie Natans Nachnamen preisgab? Jetzt ist alles zu spät!
»Hallo?«
»Hi …« Liam stockt, streicht sich mit der Hand durchs Haar.
»Hier ist Liam. Liam Lorenz. Ich rufe wegen einer Freundin an, Anna. Anna Hansen. Die kennst du doch, oder?«
»Anna?«
»Ja. Tut mir leid, dass ich dich damit so überfalle, aber du warst doch vor einiger Zeit mit ihr zusammen, oder?«
»Anna … Ja. Ist schon ’ne Ewigkeit her. Ich hab sie fotografiert, glaub ich.«
»Genau. Ich schau mir gerade das Bild an, auf deiner Website.«
»Okay. Worum geht’s eigentlich?«
»Anna ist seit ein paar Tagen verschwunden. Sie ist einfach weg, so als hätte sie die Haustüre hinter sich zugezogen und ein neues Leben angefangen. Oder als wäre was passiert. Deswegen versuchen wir, so viel wie möglich über ihre Vergangenheit herauszufinden.«
»Aha. Und wie kann ich da helfen?«
Liam schlägt ein Treffen vor. Auf einen Kaffee, bloß eine Stunde, das würde ihm schon weiterhelfen. Ob er morgen Zeit hätte …
Das wird Natan nicht machen, denkt Marie. Wenn er wirklich etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hat, wird er auf keinen Fall zusagen! Doch zu ihrer Überraschung willigt er ein und sie vereinbaren einen Treffpunkt.
Sie nimmt den Rest des Gespräches wahr wie Worte, die man bloß aus der Ferne hört. Als würde Liam bloß den Mund bewegen. Als wäre all das etwas, was sie nichts angehen würde.
»Okay«, sagt Liam, nachdem er aufgelegt hat. »Jetzt fehlen bloß noch Sebastian und Elias.«
Sie schweigt, starrt auf die Fotografie von Anna. Vielleicht braucht sie kein schlechtes Gewissen zu haben. Vielleicht ist der Typ einfach nur krank, hat aber nichts mit Annas Verschwinden zu tun!
Nur am Rande bekommt sie mit, dass Liam aufbricht. Dass er seine Zigaretten einsteckt, nach der Hundeleine greift und sich für das Essen bedankt.
»Lass mir eine Zigarette da«, bittet sie, als er in der Tür steht.
Ihn noch einmal zu umarmen, traut sie sich nicht, deswegen
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