Stumme Angst (German Edition)
streicht sie ihm nur über die Schulter.
»Bitte sag mir Bescheid, o. k.? Wegen Natan. Und wegen Andreas.«
Dass er jederzeit anrufen kann, erwähnt sie nicht wieder. Was macht das für einen Sinn: immer die gleichen Worte zu wiederholen?
Sie bleibt stehen, bis seine Schritte im Hausflur verklungen sind. Lehnt die Stirn gegen die Tür, drückt die Hand dagegen, als könnte sie so nach ihm greifen.
Diese albernen Fingernägel! Als wäre das was, worauf Liam Wert legt! Als würde er wirklich auf so perfekt zurechtgemachte Tussis stehen!
Nicht länger als zwei Stunden ist er geblieben. Wie viel Zeit er wohl mit Rebecca verbracht hat? Diese dämliche Kuh! Spielt sich als Samariterin auf! Dabei würde sie ihn genauso wenig von der Bettkante stoßen!
Langsam geht sie hinaus auf den Balkon. Und was, wenn Natan ihm morgen vom gemeinsamen Unfall der Eltern erzählt? Was dann? Sollte sie so tun, als wüsste sie nichts davon?
Sie begreift nicht, warum sich Natan überhaupt mit Liam trifft. Doch vielleicht ist er schlau, will einfach nur in die Offensive gehen. Was hat er schon zu befürchten, wenn er von Anfang an aufgeschlossen erscheint.
Sie schenkt sich Weißwein nach, greift nach der Zigarette. Am Himmel klebt ein Sonnenuntergang wie aus einem kitschigen Liebesfilm, Schwalben fliegen durch den Hinterhof. Sie blickt auf die Uhr, kurz nach zehn ist es. Was soll man anfangen mit so einem Abend?
Sie stellt sich Natans Haus vor, wie Anna es beschrieben hat: leer, traurig, die Tapeten vergilbt. Mit einer Staubschicht über allem: den biederen Möbeln der toten Eltern, all den Dingen, die lange vergessen sind.
Das Haus wird einen Keller haben. Dort könnte sie sein, dort könnte er sie halten. Ihre Hände könnten entlang der Betonwand tasten, die sich kalt anfühlt unter der Erde.
Und wenn sie schon nicht mehr lebt?
Tränen fließen über ihre Wangen.
Natürlich hat sie noch die Möglichkeit, Liam anzurufen und zu sagen: Mir ist noch etwas eingefallen. Doch sie weiß, sie wird sitzen bleiben, stattdessen die Weinflasche leeren.
Lady MacBeth, haha! Was sagte sie noch? Ach ja: All the perfumes of Arabia will not sweeten this little hand .
Freitag, Tag 8, Anna
E r sagte, er würde sich mit ihm treffen. Mit Liam, bei sich zu Hause.
Das würde passen, meinte er noch, weil er ohnehin ein paar Sachen erledigen müsste. War es das, was er sagte? Ich weiß es nicht mehr. Wenn der Kopf schmerzt, ist es schwer, sich zu konzentrieren.
Ich versuche, die Augen zu öffnen. Doch ich habe Angst vor dem stummen Mann. Über Nacht hat er sich verändert, ist größer geworden, näher gerückt. Hat die Maus verschluckt, die zuvor zwischen den Astlöchern wohnte.
Ich fühle mich nackt. Wo ist das T-Shirt geblieben? Wenn man einschläft, will man sich zudecken. Möchte man dem Menschen, den man liebt, noch etwas zuflüstern. Ich stelle mir vor zu sagen: Schau ihn dir an, Liam. Schau dir seine Hände an . Verkratzt sind sie, von den Spuren meiner Fingernägel. Lass Kapitän an ihm schnüffeln – er wird alles verstehen. Wieso willst du dich überhaupt mit ihm treffen? Wieso du und nicht die Polizei? Und Marie? Warum sagte sie nicht längst …
Ach, es ist egal. Wenn man schlafen will, ist es egal. Der stumme Mann lacht, klatscht in die Hände, wirft Steine in meinen Bauch. Schließ die Augen, Anna. Schließ die Augen, damit du ihn nicht siehst.
Ich höre Natan lachen, im Zimmer herumwerkeln. Mit einem Ruck zieht er das Klebeband von meinem Gesicht.
»Schade für dich, Anna!«, ruft er gut gelaunt. »Dein Liam hat überhaupt keine Ahnung!«
Meine Lippen: Ich wünschte, ich könnte sie nicht spüren. Wie sollen sie verheilen, wenn er das Klebeband so runterreißt? Blut rinnt über mein Kinn, er wischt es weg. Holt einen kalten Waschlappen aus dem Bad und drückt ihn lange auf mein Gesicht.
Ich blinzele: Sanft schaut er mich an. Hält mir ein Glas Wasser an die Lippen, lässt mich trinken. Kämmt mir die Haare, flechtet sie zu einem Zopf. Ob er spürt, dass mir alles egal ist?
In der Dämmerung wache ich auf. Kann es sein, dass ich fast 24 Stunden geschlafen habe? Noch immer ist er da: dieser Schmerz im Kopf. Ein Klopfen, ein Druck, der sich ausbreitet. Ich ahne: Normal ist das nicht. Er hat mich geschlagen, nicht wahr? Meinen Kopf auf den Boden gehauen? Oder nicht? Ich weiß es nicht mehr.
Dort sitzt er wieder, auf seinem Stuhl. Mit dem einen Auge, das ich öffnen kann, sehe ich, wie er ins Leere starrt, Idas Tagebuch im Schoß
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