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Stumme Angst (German Edition)

Stumme Angst (German Edition)

Titel: Stumme Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina Stein
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haltend.
    Ich versuche zu sprechen, aber mein Hals ist zu rau. Er setzt sich neben mich, hält mir das Glas an die Lippen.
    »Willst du denn gar nicht wissen, wie es mit Liam war?«
    Ich versuche, den Kopf zu schütteln.
    »Erzähl mir von Ida«, bitte ich. »Wie ihre Geschichte weitergeht.«
    Er schmiegt sich an mich wie ein kleines Kind und blickt lange auf die Holzlatten neben dem Bett. Ob er den stummen Mann erkennen kann? Schließlich zuckt er mit den Schultern und beginnt zu erzäh-len.
    »Ida und Heinrich haben geheiratet. Was folgt, ist eine endlose Jammerei über Heinrich und das Leben bei seiner Familie, bei der sie doch leben musste. Heinrichs Vater hasste sie und gab ihr keinen Freiraum. Abitur durfte sie nicht machen. Das Tagebuch führte sie sporadisch und nur dann, wenn sie ihren Vater hier im Haus besuchte. Sie schreibt, es wäre zu gefährlich gewesen, es mit zu Heinrichs Familie zu nehmen. Dann ihre Arroganz gegenüber Heinrich. Obwohl er wirklich versuchte, sich wie ein anständiger Kerl zu benehmen! Doch bei manchen Frauen ist das einfach nicht genug, nicht wahr, Anna?«
    Was folgt, ist eine Kunstpause, in der seine Hände über meinen Bauch wandern.
    »Jakob blieb den Krieg über bei dem Lehrer versteckt. Irgendwann schrieb sie ihm, dass sie von ihm schwanger ist. Der Lehrer erbarmte sich und nahm ihre Briefe entgegen. Und weißt du, was er ihr zurückschrieb? Dass sie es lieber wegmachen lassen sollte, statt Heinrich zu heiraten. Krass, oder? Ich meine, so ’ne Abtreibung, die war damals nicht ohne. Ich glaub eh, dass der sie nicht richtig geliebt hat. War ziemlich egomanisch, eigentlich so wie dein Liam. Der denkt doch auch als Erstes an sich, oder nicht?«
    Ich antworte nicht, doch er erwartet auch keine Reaktion, fährt von alleine fort mit seinem Monolog.
    »Jedenfalls war Ida vor den Kopf gestoßen. Erst nach ein paar Monaten erhält sie wieder einen Brief von Jakob. Auf einmal will er wissen, wie es ihr und dem Kind geht und so weiter. Ida lebt inzwischen wieder bei ihrem Vater, weil Heinrich an der Front ist. Idas erstes Kind kommt auf die Welt: Oskar. So viel also zu deiner Frage, ob Jakob mein Großvater sein könnte. Das war wohl eher Heinrich. Mit dem sie ein zweites Kind bekam, meinen Vater Friedrich.«
    Da kann er ja mächtig stolz sein. Der Enkel eines Altnazis zu sein. Eines Vergewaltigers.
    »Ida schreibt, der Krieg hätte Heinrich verändert. Ihn sanfter gemacht. Vielleicht hätten die beiden sogar eine Chance gehabt, wäre Jakob nicht gewesen. Denn du glaubst nicht, wie die Geschichte endet, Anna! Wahrscheinlich wusste nicht mal mein Vater davon. Der hat mir erzählt, sein Vater wäre im Krieg gestorben. Und Oskar, sein Bruder, der wär halt anders. Schon immer ein Streber gewesen, einer, der hoch raus wollte. Aber hier: Lies selber.«
    Er legt mir das Buch auf die Brust.
    Ich glaube, Natan hat den Verstand verloren. Kann eine Situation nicht mehr realistisch einschätzen. Genau wie ich. Bloß müde bin ich, will wieder schlafen. Vielleicht noch was trinken. Mir was zu essen zu bringen – darauf kommt er schon gar nicht mehr. Er ist abgedriftet.
    »Natan. Ich kann meine Augen nicht öffnen. Und ich glaub, ich hab ein Blutgerinnsel im Hirn.«
    »Quatsch!«
    Inzwischen ahne ich: Winter braucht es nicht erst zu werden, bevor ich sterben kann. Angst huscht an mir vorbei, will meinen Hals packen, mir die Luft abschnüren. Es ist der stumme Mann. Hockt er noch zwischen den Holzlatten? Oder hat er sich befreit, ist bereits daraus hervorgekrochen, zu einer lebendigen Gestalt geworden? Einer Gestalt, die mich anfassen will. Doch sobald das geschieht, Anna. Sobald er dein Gesicht auch nur streift. Bist du tot.
    Weinen: Das geht noch. Weil ich leben will. Weil ich nicht aufgeben will!
    »Bitte, Natan! Bring mich in ein Krankenhaus.«
    Vorsichtig streichelt er mir über die Wange.
    »Da ist nix, Anna. Das bildest du dir ein.«
    »Bitte, ich will mir endlich was anziehen, ja?«
    Er bindet mich los. Massiert mir sogar die Handgelenke, die taub geworden sind.
    »Soll ich dir das Ende vorlesen? Danach kannst du schlafen.«
    Ich nicke. Vielleicht hat er recht. Vielleicht ist da nichts, kein Gerinnsel, bloß Schmerzen, die nachlassen werden. Ich schließe das Auge und lausche seiner dünnen, ungewollt vertrauten Stimme.
    8. August 1945
    Er kam gestern, auf den Tag genau drei Monate nach Kriegsende. Der Nachmittag war wunderschön: der Himmel strahlend blau, die Kinder spielten im Garten. Jakob

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