Stumme Angst (German Edition)
mit mir nach Indien gehen will? Ob ihm seine Arbeit wirklich wichtiger ist? Glaubt er, dass dieses Volontariat der einzige Job ist, den er jemals finden wird?
Er könnte in Indien schreiben. Fotografieren, sich nützlich machen. Er könnte zusehen, wie Wunden heilen. Idas Geschichte habe ich ihm schon erzählt. Zumindest das Wesentliche, wie sehr mir ihr Tagebuch geholfen hat. Jetzt berichte ich, dass ich es an Oskar geschickt habe, ihren Sohn. Der mir aus Florida einen langen Brief zurückschickte.
Liebe Anna, sprach er mich an. Und wiederholte diese Worte in seinem Brief immer wieder: liebe Anna.
Wie sehr er bedauert. Wie sehr er sich schämt.
Er klingt wie ein warmherziger Mensch, erzähle ich Liam. Der mich zu sich nach Hause eingeladen hat; man könne bei ihm in der Nähe mit Seekühen schmusen.
»Stell dir vor. Du liegst neben so einer Seekuh. Die sind unglaublich niedlich.«
Liam lacht, lässt die Zigarette in den Hof fallen und kommt endlich zurück zu mir an den Tisch.
»Wie muss Oskar sich gefühlt haben, als er davon erfuhr …«, fragt er sich.
»Ich glaube, er hat jemanden geschickt, um das Haus zu verkaufen.«
Zu Natans Beerdigung wird er jedenfalls nicht gekommen sein. Niemand wird gekommen sein, auch kein Priester, denn Natan war aus der Kirche ausgetreten. Also wird man ein Grab ausgehoben und ihn herabgelassen haben. Keine Blumen, keine Kerze, keine Tränen. Ein Mensch verschwindet, einfach so.
»Ich frag mich, wo er überhaupt begraben liegt.«
»Ist doch scheißegal!« Liam reibt mit den Händen über seine Jeans, sein Jähzorn macht mir ein wenig Angst.
»Wahrscheinlich ist auch niemand zu seiner Beerdigung gekommen …«
»Du machst dir Gedanken, wer zu seiner Beerdigung gekommen ist? Anna …«
»Das ist es nicht. Es ist dieses Bild, das mir in den Sinn kommt. Eines offenen Grabes, an dem niemand steht. Dieses einsame, tiefe Loch. Dass ein Mensch so vereinsamen kann. Das macht mir immer noch Angst.«
Er nickt, lässt die Worte im Raum stehen. Bis sie schwer werden, sich zwischen uns ausbreiten. Ich wünschte, sie wären Brotkrumen, die ich vom Tisch wischen könnte.
»Anna, wegen Indien …«
Ich hebe die Hand, möchte, dass er innehält. Trau dich, Anna. Deine Hand über den Tisch zu schieben. Sie ihm hinzuhalten, die offene Hand. Wie selbstverständlich legt er seine hinein.
»Ich hab mir was überlegt«, sag ich schnell, damit die Tränen mir nicht zuvorkommen.
»Ich geh ein wenig spazieren. Vielleicht bist du noch da, wenn ich wiederkomme. Vielleicht auch nicht. Falls nicht, weiß ich Bescheid.«
»Anna …«
»So machen wir es, ja?«
Wie er dasitzt, mir in die Augen schaut.
»Okay«, antwortet er langsam. »So machen wir es.«
Meine Handtasche hängt über der Stuhllehne, ich streife sie über die Schulter.
»Da ist noch was für dich. Hinten im Wohnzimmer. Ein Geschenk. Du siehst es, wenn du reinkommst. Es ist der einzige Gegenstand im Raum.«
»Wieso schenkst du mir was?«
»Hast du doch auch. Die Bilder, die du gemacht hast, als ich fort war. Sie bedeuten mir viel. Am besten gefällt mir das neue Wort: Shadowmountains .«
Ich schenke ihm ein Bild. Eines, das er verstehen wird. Darauf ist das Zimmer zu sehen, in dem ich all diese Tage verbrachte. Mein Blick vom Bett aus: auf den Tisch, den Stuhl, Natans Stuhl. Dennoch ist es kein trauriges Bild, denn den größten Teil davon nimmt das offene Fenster ein, die Tanne dahinter, der Himmel. Ein Ausblick ins Blaue, ohne eine einzige Krähe.
Ich taste mich zur Haustüre vor. Und er folgt mir, steht da: mit den Händen in den Hosentaschen, die Haare trägt er jetzt kürzer, besonders im Nacken. Stoppelig würden sie sich anfühlen, wenn man darüber streichen würde.
»Verabschieden brauchen wir uns dann nicht …«
Er schüttelt den Kopf, aber richtig anschauen kann ich ihn nicht. Zu groß ist die Angst, ich könnte etwas in seinem Gesicht lesen.
Die Tür hinter mir zuziehen: Das ist alles, was noch geht. Mich draußen im Flur mit dem Rücken gegen sie zu lehnen und die Augen zu schließen.
Anna , flüstert etwas in meinem Kopf.
Mach die Augen auf .
Leseprobe
Alexandra Kui
Falsche Nähe
Thriller
Prolog
R iechst du den Duft der Nacht? Dieses erdige Schweigen. Die Süße der Schatten. Wenn die Blätter fallen und die Tage kürzer werden, so kurz, dass die Dunkelheit nie ganz verschwindet, ist es Zeit, die Angst einzuladen. Lausche dem Sturm und kuschele dich ein, die Lieblingsdecke um die Schultern, das
Weitere Kostenlose Bücher