Stumme Angst (German Edition)
die falschen Schuhe an. Feine Absatzschuhe sind es, für das Kaffeetrinken mit ihren Eltern angezogen. Ruhig streift sie sie ab, steigt barfuß in den Regen. Ihr Kleid ist innerhalb von Sekunden durchnässt. Nichts nimmt sie mit, auch ihr Handy nicht. Sie weiß längst, dass sie hier draußen keinen Empfang hat. Als sie an Liams Auto vorbeigeht, hört sie den Hund bellen. Soll sie ihn frei lassen? Ihn mitnehmen, vielleicht könnte er helfen? Nein, besser nicht.
Sie hofft, dass Liam irgendwo auf sie wartet, vielleicht unter den Bäumen verborgen. Bestimmt wird er nicht alleine in dieses Haus gegangen sein!
Sie zittert, es ist kalt geworden. Ihre Brustwarzen stehen unter dem Sommerkleid spitz ab.
Marie traut sich nicht durch das Haupttor zu gehen. Stattdessen geht sie zur Seite des Anwesens und zieht sich am Zaun hoch. Doch sie rutscht ab und verletzt sich, alles ist glitschig, sie hat eine Fleischwunde am Unterschenkel.
Aber egal. Immerhin ist es unter den Tannen ein wenig trockener. Sie bindet sich die Haare hoch, die ihr schwer im Nacken hängen.
Warum sieht sie Liam nicht, warum wartet er nicht im Schutz der Bäume? Bloß zwei dicke schwarze Vögel kann sie erkennen – Krähen, die wortlos auf sie herabblicken.
Sie tastet durch das Gebüsch, tritt auf Nadeln, auf Wurzeln, Spinnweben streifen ihr Gesicht. Bald liegt das Haus direkt neben ihr. Vielleicht ist Liam irgendwo dort, auf der anderen Seite?
In ihren Bewegungen ist sie vorsichtig. Die Angst macht sie lahm, kaum zu einem klaren Gedanken fähig.
Irgendwann sieht sie ihn. Er steht im Regen, der so dicht fällt, dass seine Gestalt darin verschwimmt.
Eigentlich sind wir unter Wasser, denkt sie noch und bemerkt das warme Rinnsal nicht, das ungewollt an ihren Beinen entlangläuft.
Gleich da vorne steht Natan. Seine Bewegungen sind ruckartig, ferngesteuert. Er wirkt, als müsse er sich beeilen. Was er tut? Schaufeln, etwas wie einen Spaten hält er in der Hand, Matsch spritzt umher. Zwischendurch verliert er das Gleichgewicht und droht auszurutschen, stützt sich geschwächt auf dem Werkzeug ab. Ob er sich umschaut? Ob er Angst hat, entdeckt zu werden? Lautlos kriecht Marie tiefer ins Gebüsch zurück. Und kann das Zittern nicht einstellen, die Angst.
Zurück!, schreit alles in ihr. Zurück! Vielleicht hat er dich schon gesehen!
Fieberhaft versucht sie nachzudenken. Ist noch Zeit, ins Dorf zu fahren und Hilfe zu holen? Die Antwort darauf kennt sie längst. Denn sie hat Liam dort liegen sehen, seinen Körper reglos auf dem Boden. Was Natan schaufelt, ist ein Grab. Die Frage ist nur, ob Liam noch lebt oder nicht.
Jetzt hast du die Chance, nicht wahr, Marie? Es wiedergutzumachen. Deine Hände reinzuwaschen. Wären deine Beine nur nicht aus Wackelpudding.
Sie schaut durch die Zweige: Er schaufelt. Was liegt dort auf dem Weg? Eine Grabegabel, eine Spitzhacke? Sie weiß es nicht. Sie steht auf der Wiese, bückt sich danach. Seine Gestalt: Ein zuckender, wie rasend arbeitender Körper, der Erde aushebt und zur Seite kippt, wieder und wieder. Als sie zum Schlag ausholt, dreht er sich nicht mal um. Bloß fallen tut er, hinein in den Matsch. Hinein in die Grube, er schreit. Sie holt wieder aus, sie trifft ihn am Bauch, er brüllt, rollt sich zusammen. Ihre Beine: Wackelpudding auf Matsch. Sie balanciert um das Grab, will ihn wieder treffen. Aber dann sieht sie das Messer in seiner Hand. Schon zur Hälfte hat er sich aufgerichtet, er wankt. Ist sie wirklich schneller?
Die Spitzhacke ist schwer, sie holt weit aus. Und möchte im nächsten Moment lachen. Denn sein Kopf: der sieht für einen Augenblick aus, als würde er davonfliegen. Sie hört etwas krachen, trotz des Regens. Und wieder knackt es, als sie zuschlägt. Obwohl er schon daliegt, obwohl es so aussieht, als würde schon etwas aus seinem Kopf heraussickern. Trotzdem. Ist er nicht an allem schuld? Ist sie nicht wegen ihm in diese Situation gekommen? Sie ist kein Verbrecher, das nicht! Sie hat das nicht gewollt! Sie wollte etwas sagen, hat nur den richtigen Zeitpunkt verpasst! Es war nicht meine Absicht, Liam. Nicht meine Schuld, Anna!
Sie kauert sich neben Liam, streicht seine Haare aus der Stirn. Sucht nach Verletzungen, findet aber keine. Aber etwas riecht stechend, sie kann es wahrnehmen, trotz des Regens. Was klebt da an seiner Lippe? Ihr Magen verkrampft sich, sie sieht: Er hat sich erbrochen und liegt ungünstig. Zwar nicht auf dem Rücken, aber doch so, dass er daran ersticken könnte. Sie dreht
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