Stumme Angst (German Edition)
ihn auf die Seite, steckt ihm den Finger in den Mund. Er röchelt, spuckt aus, vor Erleichterung weint sie.
Sie zieht ihn ins Haus, legt seinen Kopf in ihren Schoß und denkt: So könnte es immer sein.
Die Zeit stiehlt sich ums Haus. Marie lässt sie vorüberstreichen, lässt den Regen fallen, allein ihr Körper ist die Achse, um die alle Geschehnisse rotieren.
Draußen im Regen liegt Natan und die Tropfen spielen Pingpong auf seinem Körper. Noch immer ist sie benommen und hat Angst, er könnte aufstehen, sobald sie Liam loslässt und nach Anna sucht. Wie in einem schlechten Film. Man glaubt den Bösewicht tot und wendet sich ab. Aber man irrt sich. Und irgendwann steht er wieder hinter einem.
Und doch muss sie nach Anna suchen. Noch einmal kontrolliert sie Liams Puls, er scheint stabil zu sein.
Das Haus wirkt müde und verlassen, in seinem Inneren vermischt sich der Geruch nach Regen mit dem Mief alter, längst gestorbener Leute.
Bald hat sie die zwei Zimmer des Erdgeschosses abgesucht: Wohnzimmer und Küche, in der sich das Geschirr in der Spüle stapelt: Fliegen schwirren um vertrocknete Essensreste, geben ein Bild der Verwahrlosung ab.
Schließlich betritt sie die Treppe und geht hinauf ins Obergeschoss. Und weiß nicht, was sie schlimmer finden soll: den Geruch nach Urin und Erbrochenem oder den Anblick von Anna, wie sie daliegt. Ihre Hände über dem Kopf ans Bett gefesselt. Ihr Rücken, dicht an die Wand gepresst. Als wäre sie ein Tier, das sich verkriechen will. Und ihre Augen! Aufgerissen, der Blick abwesend.
Marie möchte schreien, doch der Laut macht kehrt, rutscht inwendig die Kehle hinab.
Das hatte sie nicht erwartet, nicht so. Nicht so, Anna!
Zittrig tritt sie ans Bett, fühlt ihren Puls.
»Anna«, sagt sie, doch ihre Stimme klingt leiser als der immerfort prasselnde Regen.
Epilog
E s klingelt, endlich. Obwohl: Da ist auch ein bisschen Angst. Angst, er könnte erwarten, dass ich ihm lange in die Augen schaue. Dass ich ihm etwas Bestimmtes erzähle, ihn vielleicht küsse.
Ich habe lange gewartet auf dieses Klingeln. Am Küchentisch gesessen, mit den Händen über die hölzerne Oberfläche gestrichen, wieder und wieder. Als würde ich mehr als nur die letzten Brotkrümel fortwischen wollen. Diese Struktur im Holz, sie gefiel mir nicht. Alles wollte ich daraus fortwischen, alles, was mich an das stumme Gesicht zu erinnern vermag.
Das Klingeln reißt mich aus dieser Bewegung, lässt mich erstarren, innehalten. Vielleicht ist es so: Wenn man sich lange etwas herbeisehnt, wird man im entscheidenden Moment langsam. Braucht man lange, um aufzustehen und tatsächlich an die Tür zu gehen.
Es klingelt zum zweiten, zum dritten Mal.
Die Türklinke fühlt sich kalt an. Und ich höre, dass er im Treppenhaus kehrtmacht. Dass er gehen, nicht länger warten will.
Vielleicht war es das, was ich wollte. Dass er nicht so dicht vor der Tür steht. Dass Abstand zwischen uns gelangt, dass er nicht auf die Idee kommt, mich zu umarmen.
Als ich öffne, sieht er mich von der Treppe aus an. Der Hund reißt sich von ihm fort, springt an mir hoch. Ich bücke mich und brauche lange, um ihn zu beruhigen. Er liegt auf dem Rücken und streckt seine lächerlich kurzen Beine in die Luft.
Liam steht vor mir, seine Stirn ist gerunzelt.
»Komm rein.«
Meine Wohnung wird ihm fremd vorkommen. Das Zimmer: ein Tisch, zwei Stühle, Umzugskisten. Eine Flasche Wasser und zwei Gläser.
Er setzt sich.
»Möchtest du was trinken?«
Er nickt, weicht meinem Blick aus. Wäre der Hund nicht da – zwischen uns wäre nichts, das sich lebendig anfühlen würde.
»Wie geht’s dir?«, traut er sich zu fragen, als das Glas Wasser vor ihm steht. Ich setze mich, ziehe die Füße hinauf auf den Stuhl, umschließe die Knie mit den Armen.
Ich schaue an ihm vorbei an die Wand. Eines von Mamas Bildern hing dort, hat einen Abdruck auf der Tapete hinterlassen. Genau wie in seinem Wohnzimmer. Dort, an den Wänden, blickte man auf eine Galerie voller Schatten.
Zittern, wie Schüttelfrost. Gänsehaut unter dem Pullover.
Duckskin .
»Das geht irgendwann vorbei«, entschuldige ich mich.
»Mit wem sprichst du darüber?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Mit Selma. Einer Psychologin. Mit Rebecca, manchmal.«
»Wie geht es ihr?«
»Rebecca?«
»Ja.«
Wenn ich könnte, würde ich schmunzeln. Es ist offensichtlich, dass er über alles sprechen will, bloß nicht über uns. Gerne würde ich ihn jetzt schon direkt fragen: »Kommst du
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