Stumme Angst (German Edition)
mit?«
Nach Indien, mit mir. So wie ich es dir vorgeschlagen habe. Eine Mail habe ich dir geschrieben, nicht wahr? Gesehen habe ich dich seit drei Monaten nicht mehr.
Stunden werden zu Tagen, zu Wochen, zu Monaten. Man wacht im Krankenhaus auf und schaut geradeaus. Die Wände dort sind kahl, sind kühl, sind fremd.
Weinen tut man erst spät. Und die Tränen kommen vor den Schreien. Die man endlich rauslassen kann, wenn man begreift, dass es vorbei ist. Wenn man versteht, was geschehen ist.
Liams Gestalt, verschwommen, auf diesem Stuhl im Zimmer. Natans Stuhl. Von dem er runtergekippt ist. Dieses schwere Plumpsen, als sein Körper zu Boden sackte. Er versucht, die Stille zu durchbrechen.
»Und Marie? Wie geht’s ihr?«
Plötzlich merke ich, wie trocken mein Rachen ist. Dass ich schon lange nichts getrunken habe, obwohl ich schon seit Ewigkeiten hier sitze.
»Marie …«
Mein Blick klebt wieder an der Wand hinter ihm, ich schließe die Augen und versuche, mir das Bild vorzustellen, das dort hing. Ich glaube, ich könnte es nachmalen, kenne jede Nuance darauf, jeden Pinselstrich.
Ich greife nach meinem Glas, nehme einen kräftigen Schluck.
»Ich hab sie lange nicht gesehen«, gebe ich zu.
Kapitän kratzt an meinem Stuhl und endlich nehme ich die Füße herunter. Ziehe den Hund herauf zu mir auf den Schoß, kraule ihn hinter den Ohren.
»Wer wäscht dich jetzt?«, murmele ich.
»Möchtest du nicht mit ihr reden …?«
»Mit Marie? Nein.«
Sein nachdenkliches Gesicht – »Wieso nicht?«, will er fragen, doch er lässt mir Zeit, selbst die Antwort zu geben.
»Ich habe mit Marie geredet. Lange. Wollte wissen, warum ihr das mit Natan nicht schon früher eingefallen ist. Wie sie das nur vergessen konnte, dass unsere Eltern bei demselben Unfall starben.«
»Und?«
»Und nichts. Sie hat dagesessen und an mir vorbeigeschaut. Das wäre einfach so lange her, hat sie gesagt, Natan wäre ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen.«
»Find ich seltsam.«
Ich zucke mit den Schultern und denke: Ich auch. Und natürlich ist dadurch etwas kaputtgegangen zwischen Marie und mir. Ich habe kein Bedürfnis mehr, mit ihr zu sprechen, sie zu treffen. Genauso scheint es ihr zu gehen, denn sicherlich ist es schon drei Wochen her, dass sie mich zum letzten Mal anrief.
Doch das alles sage ich ihm nicht. Stattdessen nehme ich sie in Schutz: »Wenn Marie nicht gewesen wäre …«
Mitten im Satz halte ich inne, denn Liam schaut so wie immer, wenn er nicht einverstanden ist: die eine Augenbraue leicht nach oben gezogen, die Mundwinkel kaum merklich verzogen. Etwas wie einen zynischen Zug kann man in ihnen lesen.
»Wenn es Marie schon vorher eingefallen wäre«, kontert er, »wäre es vielleicht gar nicht so weit gekommen.«
Nachdenklich rücke ich Kapitäns Augenklappe gerade. Der Hund leckt mir liebevoll die Hand. Er könnte auch mitkommen nach Indien.
»Sie wird es nicht absichtlich vergessen haben«, schließe ich.
Liam antwortet nicht, starrt stattdessen aus dem Fenster in den Hinterhof. Wein rankt an der gegenüberliegenden Mauer entlang, seine Blätter leuchten rot und gelb.
Bald werden die letzten Blätter fallen. Werde ich in Indien sein, mit oder ohne Liam. Im Winter.
Dass Liam meine letzte Bemerkung im Raum stehen lässt, wundert mich. Normalerweise möchte er immer das letzte Wort haben. Aber noch blickt er auf das bunte Blattwerk, als gelte es, bloß abzuwarten, bis ich seinen Gedanken folge.
»Warum sollte sie das tun …?«, frage ich. »Absichtlich was verschweigen?«
»Weiß ich nicht«, sagt er zu schnell und zieht ein Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche. »Stört es dich …?«
»Nein. Nur dass du rauchst …«
»Inzwischen schon eine Weile. Wenn man wartet, Anna. Und nichts mit seinen Händen anzufangen weiß.«
»Gibst du mir eine?«
Er zieht eine für mich aus der Schachtel, hält mir das Feuer hin.
Gedanken an Marie spinnen sich durch den Raum. Warum sagt er nicht, was er sagen will? Ist etwas vorgefallen zwischen Marie und ihm?
Ich schließe die Augen und komme zu dem Schluss: Was soll’s.
»Das ändert nichts, Liam. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen bis zu dem Tag, an dem er mir das Tuch vors Gesicht presste.«
Er nickt kaum merklich, steht schließlich auf und öffnet das Fenster, schnippt die Asche hinaus in den Hof. Dabei wirkt er, als ob er schon jetzt Abstand zwischen uns bringen wollte.
Wie kann das sein? Dass er das Gift getrunken hat, aber nicht für ein paar Monate
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