Stummer Zorn
Erleichterung begann ich zu lachen, und nach einem kurzen Moment stimmten die anderen mit ein. Sogar Stan Haskell kicherte auf seinem Platz am Pult.
Sein Anblick ernüchterte mich. Meine Belustigung verschwand wie seine augenblicklich, als er bemerkte, daß ich in seine Richtung blickte. Er war ergraut. Der Sommer war mit solcher Sicherheit aus seinem Gesicht gewichen, wie er in Knolls verblaßte. Innerhalb einer Woche hatte Barbaras verlegener Liebhaber die andere Seite der Lebensmitte erreicht, zu früh und zu schnell.
Er tat mir leid, und ich war wütend auf ihn; ich kam aber zu dem Schluß, daß er montags, mittwochs und freitags von acht bis neun Uhr nur Dr. Stan Haskell sein würde, mein Professor im Chaucer-Kurs, Punkt. Ich mußte seinen Kurs belegen. Ich hatte mein eigenes Leben, sagte ich mir. Meine eigenen Ziele. Ich mußte aufhören, über Barbara Tucker nachzudenken. Also glitt ich in ein Schreibpult, zückte einen Stift und öffnete das unbeschriebene Notizbuch, das ich mit „Chaucer" beschriftet hatte.
Mimi, Gott segne sie, wartete mit einem Glas Wein, als ich nach Hause kam. Ich hatte bis 17 Uhr 30 in der Bibliothek gelernt, dann hatte der Hunger mich hinausgescheucht. Mimis großes Chaos hatte in den vorangegangen Wochen stattgefunden, als sie Ausschußversammlungen einberufen, das Semester organisiert und die Wogen in der aufgewühlten Fakultät und beim Personal, dem der unruhige Monat vor Semesterbeginn bitter aufgestoßen war, geglättet hatte.
„Wie ist es gelaufen, Nick?" fragte sie teilnahmsvoll.
„Junge, Junge. Ich werde mich totarbeiten müssen." Ich hievte mich aufs Sofa und nahm dankbar ein Glas Wein entgegen.
„Das wußtest du ja."
„Klar. Aber wissen und tun sind zwei ganz unterschiedliche Dinge."
„Hast du Stan gesehen?" Sie ließ sich mir gegenüber nieder, und Mao kam an, um auf ihren Schoß zu springen.
„Ja, gleich heute morgen." Ich erzählte ihr von meinem Entschluß.
„Ja, genau so wirst du es machen müssen. Was für ein Mistkerl. Mir fallt einfach kein anderes Wort für ihn ein."
„Na ja ... ja. Aber ich glaube nicht, daß er Barbara wie eine heiße Kartoffel hat fallenlassen, weil er von Grund auf ein Mistkerl ist. Verstehst du, was ich meine?" Attila erschien an der Lehne des Sofas. Ich nahm einen tiefen Schluck Wein und kraulte den Kater unterm Kinn. Er begann leidenschaftlich, meine Fingerknöchel sauberzu-lecken. Vielleicht hatte et mich vermißt? Wahrscheinlicher war, daß er Hunger hatte. „Weißt du, ich kenne die beiden nicht besonders gut, nicht annähernd so gut wie du. Aber ich glaube, er kann einfach nicht mit ihr darüber reden, und wenn er über diese entscheidende Sache nicht sprechen kann, können sie keine Beziehung führen. Er erträgt es nicht mal, Barbara zu sehen, er kann sich mit nichts von dem, was ihr passiert ist, auseinandersetzen."
„Warum nicht?" Mimi stand Illoyalität besonders empfindlich gegenüber, seit Richard sie verlassen hatte.
„Ich schätze, er kann es einfach nicht." Ich zündete mir eine Zigarette an. „Als ich sie zusammen gesehen habe, fand ich, sie paßten wunderbar zusammen, und du sagst, sie liebten einander seit mindestens zwei Jahren. Aber ich nehme an, Stan ist einfach schwach oder sowas."
„Als ob es ihre Schuld war!" unterbrach Mimi.
„Ich verteidige ihn nicht", sagte ich sanft. „Ich versuche nur, ihn zu verstehen, weil ich es muß. Ich muß in dem Kurs bleiben."
„Ich bin nicht böse auf dich. Tut mir leid", sagte sie, „Aber du weißt, wie erschüttert Barbara ist, und ein sich derart verhaltender Stan hat ihr gerade noch gefehlt, oder? Sie braucht ihn jetzt gerade am meisten. Gerade jetzt zieht er sich zurück. Erinnerst du dich, wie sie immer wieder nach ihm gefragt hat?"
Ich wollte nicht an unseren Besuch bei Barbara denken. Ich hatte mit und für Barbara Tucker gelitten, soweit es unsere entfernte Bekanntschaft eben zuließ, weil ich sie so selbstverständlich vom ersten Moment an gemocht hatte. Jetzt war ich den Schmerz und die Angst leid, die ihre Situation in mir verursacht hatte.
Aber ich konnte nicht anders, als mich daran zu erinnern. Ich hörte wieder ihre fassungslose Stimme, die Mimi fragte, ob sie wußte, warum Stan nicht vorbeigekommen war. Es war am Tag nach der Vergewaltigung gewesen, als Barbara noch desorientiert und voller Schmerz war.
Als Stan sie an der Haustür abgesetzt hatte, hatte sie uns erzählt, waren sie beide müde von zuviel Alkohol gewesen. Stan hatte
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