Stummer Zorn
sagte Stan zu Barbara. Ich hatte das Gefühl, ich sollte möglicherweise besser gehen. Stan war augenscheinlich mehr als ein bißchen verärgert. Sie erkannte seine Verstimmung als gerechtfertigt an. „Du hast recht, das war bescheuert. Neil ist seine kleine Tochter, Theos einziges Kind", erklärte sie mir. „Sie hat Leukämie."
„Oh, das ist ja schrecklich!"
„Er will nicht darüber reden. Es war wirklich dumm von mir, danach zu fragen. Aber ich will wissen, wie es ihr geht und ein bißchen Anteilnahme zeigen. Man kann mit Sarah Chase darüber reden — das ist der Name seiner Frau — oh, warst du nicht auch auf Miss Beachams?"
Von dem plötzlichen Themenwechsei verwirrt nickte ich.
„Theos Frau ist Sarah Chase Beacham."
„Miss Beacham hat Verwandte?" fragte ich erstaunt.
„Na ja, mindestens einen Bruder", sagte Barbara. Sie fing langsam wieder an zu lächeln. Stan nahm ihr Glas und sein eigenes, um sie wieder aufzufüllen, ich schüttelte aber den Kopf, als er auf meines deutete. „Sarah Chases Vater ist Miss Beachams Bruder. Er ist auch Pädagoge. Ich glaube, er ist Dekan am Pine Valley Methodist College, Sarahs Bruder ist irgendwo High-School-Direktor, und sie selbst hat früher auch gelehrt. Aber aufgrund von Neils Krankheit - na ja, Sarah Chase mußte einfach aufhören zu arbeiten. Sie hat sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Sie ist älter als du, also bezweifle ich, daß sie auf Miss Beachams war, als Mimi und du da waren."
Ich spähte noch mal zu der Frau hinübet und versuchte, mich an ihr Gesicht zu erinnern. Jetzt, da ich die Geschichte kannte, bildete ich mir ein, die Sorgenfeiten, die Düsternis auszumachen, die ihre Züge vor der Zeit prägten. Aber ich hatte nicht das Gefühl, Sarah Chase Cochran, geborene Beacham, je zuvor gesehen zu haben. Als Stan mit zwei vollen Gläsern zurückkam, nahm ich Abschied und begann einen Rundgang in der Menge. Mimi kam mit einem Mann im Schlepptau auf mich zu. Er war groß und stabil gebaut, mit kräftigen, leicht verlebten Zügen und einem sinnlichen Mund. Ihr Gesicht sah lebendiger aus als zu irgendeinem vorherigen Zeitpunkt seit meiner Rückkehr nach Hause.
„Nickie, das ist Charles Seward, junger Rechtsanwalt und Lebemann", sagte sie leichthin. „Charles, Nickie Callahan, meine älteste und beste Freundin." Mir fiel allerdings auf, daß sie, während eine kleine Hand entspannt auf seinem Arm lag, die andere zur Faust ballte. Sie hatte Angst, daß ich ihn ebenso hart aburteilte, wie ich es mit den anderen getan hatte.
Unmittelbar nach der Bekanntmachung flatterte sie von dannen, eine ihrer Techniken, mit der ich vertraut war. Ich nannte sie „rar machen" und war nie sicher gewesen, ob sie von ihrer Seite aus bewußt oder unterbewußt ablief.
„Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Nickie", sagte Charles Seward freundlich. Er konnte natürlich nicht wissen, daß das mein verhaßtester Gesprächsaufhänger war. Ich befahl mir, darüber hinwegzusehen und eilends einige Pluspunkte zu finden.
Der junge Anwalt war groß, größer noch als Cully, also wußte ich, daß er erst vor kurzem angekommen war. (Zu spät auf Mimis Party - ein Minus, es sei denn, er hatte eine annehmbare Entschuldigung.) Er war ein durchaus attraktiver Mann. Seine braunen Haare waren oben vorzeitig dünn geworden, aber das verlieh ihm einen Hauch von Seriosität, die zu einem Mann des Gesetzes paßte. Seine hellblauen Augen wirkten im Kontrast zu der Bräune seiner Haut noch heller.
„Kennen Sie Mimi schon lange?" fragte ich mit Bedacht. Ich kann genauso gut Phrasen dreschen wie jeder andere.
„Lange genug, um mir zu wünschen, an Ihrer Stelle hier mit ihr zu leben", sagte er und brachte die Angelegenheit damit geradewegs auf den Punkt.
„Umpf", sagte ich und rieb mir meinen Magen.
„Ich habe vier Jahre lang darauf gewartet, daß dieser Widerling Richard verschwindet. Davor habe ich darauf gewartet, daß Gerald verschwindet. Wie schätzen Sie meine Chancen ein?"
„Es geht doch nichts über Direktheit", brummte ich. Warum war er nicht bei hohlen Phrasen geblieben? „Na ja, meinen Sie, Sie können abwarten, bis ich das College beendet habe?" fragte ich halb ernst. „Ich bin gerade erst eingezogen, und mir mißfällt der Gedanke, so schnell wieder die Adresse zu ändern."
„Verzeihung", sagte er ohne jede Spur von Aufrichtigkeit. „Ich habe versucht, Mimi zu fassen zu bekommen, nachdem sie sich von Gerald hatte scheiden lassen, aber ich habe auf den
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