Stummer Zorn
die Gläser einsammelte, die Leute an komischen Orten abgestellt hatten. Ich brachte so unauffällig wie möglich einige davon zurück in die Küche und wurde dort von einem Professor festgehalten, der sich über die romantischen Dichter unterhalten wollte, offensichtlich in der Absicht, meine Gedanken auf das Thema generell zu lenken. Nachdem ich ihn lächelnd zur Tür komplimentiert und mit einem herzlichen Händedruck verabschiedet hatte, fand ich ein paar weitere Gläser und Teller und plauderte mit ein paar mehr Leuten.
Als ich später darüber nachdachte, kam ich zu dem Schluß, daß etwa fünfundvierzig Minuten nach dem Aufbruch der Houghtons das Telefon klingelte. Ich wischte zufällig gerade einen Feuchtigkeitsring auf dem altmodischen, halbrunden Telefontischchen auf, das in die Wand eingelassen war. Ich nahm automatisch ab und meldete mich.
„Nickie? Nick?"
Elaine Houghton. „Ja bitte?"
„Ich muß dir jetzt etwas ziemlich Scheußliches sagen. Du und Mimi schließt heute nacht besonders sorgfältig ab, hörst du? Eine Freundin von mir, die Barbara Tucker ihre Garagenwohnung vermietet, hat mich gerade angerufen, und die Polizei ist dort. Barbara ist heute nacht vergewaltigt worden."
"Aber sie war doch gerade noch hier", sagte ich dümmlich.
Die gesamte Party verschwand aus meinen Gedanken. Ich starrte den Feuchtigkeitsring auf dem lasierten Holz an, als sei er ein Beweis dafür, daß die Nachricht nicht wahr war. „Vielleicht wurde nur eingebrochen?"
„Nein. Ein Krankenwagen ist da", sagte Elaine knapp. "Außerdem hat die Polizei es meiner Freundin Marsha erzählt. Ich bin recht sicher. Bis bald erst mal." Sie legte auf.
Ich stand in der Nähe der improvisierten Bat im Wohnzimmer. Cully war dort, um sich ausnahmsweise selbst einen Drink zu machen. Ich schwankte zu ihm herüber und legte die Hand auf seinen Rücken. Er drehte sich ruckartig um.
„Was?" Dann sagte er viel eindringlicher: „Nickie! Was ist? Wer war das?"
„Oh, Cully. Oh, Cully", brachte ich aus dem Nebel von Alkohol, Erschöpfung und Schock heraus. „Die arme Barbara. Er hat Barbara Tucker erwischt."
Mimi hatte mit ihrer eingebauten Gastgeberinnenantenne Ärger gespürt und erreichte die Bar aufgrund des Anblicks zweier auf einer Feier aufgebrachter und ernster Menschen mit ernster Miene in einem Wirbel aus Rot. So konnte ich beiden erzählen, was Elaine gesagt hatte.
Ich dachte an die Frau auf dem Gehsteig vor meinem Wohnhaus in New York und fragte mich, ob es hier letzten Endes so anders war.
Acht Uhr morgens war eigentlich zu früh für alles, vor Chaucer, Ich stolperte fast auf dem Weg zum Gebäude des Anglistischen Seminars, während ich verzweifelt versuchte, wach zu werden und munter auszusehen. Ich wollte mit Schwung starten und am Ball bleiben.
Die Ödnis der Anmeldung, die Gebührenzahlung, die Orientierungstage, der Bücherkauf — das alles hatte in diesem ersten Vorle-sungstag gemündet. Ich war tatsächlich im Begriff, etwas zu Ende zu bringen, womit ich vor Jahren aufgehört hatte.
Da sich das Immatrikulationsbüro im Erdgeschoß des Englisch- und Verwaltungsgebäudes befand, kam ich auf meinem Weg den Gang entlang an Theo Cochrans offener Tür vorbei. Das Neonlicht Schimmerte auf seiner Glatze. Er sah auf, als ich vorbeilief und winkte kurz. F.s war schön, ein freundliches Gesicht in der Herde der Fremden zu sehen., die alle deprimierend jünger waren als ich.
Mich als ängstlich zu bezeichnen wäre eine Untertreibung gewesen. Mimi hatte mir seit Tagen Motivationsansprachen gehalten, nachdem ich endlich zugegeben hatte, wie groß meine Angst davor war, wieder gänzlich neu zu lernen, wie man studierte und konfrontiert mit jüngeren Geistern das Arbeitspensum zu bewältigen, von dem die arme Barbara mir so aufmunternd versichert hatte, daß ich es schaffen könnte.
Richtiger Kurstaum? Ich verglich die Zimmernummer auf der Tür mit der auf meinem Stundenplan. Richtiger Kursraum, definitiv. Ich zögerte einen Augenblick, Dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und stieß die Tür auf - um vom hörbaren Keuchen eines Jungen Typen empfangen zu werden, der ein Led-Zeppelin-T-Shirt trug und in der ersten Reihe saß. Dieses übertriebene Keuchen lenkte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf mich. Ich starrte zurück in ihre glatten Gesichter. Hatte ich etwas falsch gemacht?
„Wow!" sagte der dreiste kleine Led Zeppelin gerade genauso laut, wie er gekeucht hatte. „Du bist mal 'ne Frau, Frau."
Aus lauter
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