Stunde der Vergeltung (German Edition)
verabreicht, damit es den Flug verschlief. Manche Eltern machten das, um eine stressfreie Reise zu haben, aber sie war furchtbar klein dafür. Womöglich schlief sie einfach generell viel, und dies war ihre normale Nachtschlafdauer. Sie könnte auch unter einem Jetlag wegen eines vorangegangenen Fluges leiden. Und vielleicht sollte Andrea sich einfach um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.
Nichtsdestotrotz ging sie, als der Mann eine Stunde später aufstand, die Beine streckte und den Waschraum aufsuchte, zu 10B und warf einen Blick auf das Kind.
Unveränderte Position. Das Mädchen sah nicht gut aus. Tatsächlich überkam Andrea die unangenehme Erinnerung an die Rotavirusinfektion, die Lili letztes Thanksgiving einen Aufenthalt in der Kinderklinik beschert hatte, mit einem Infusionsschlauch in ihrem dünnen Ärmchen. Dieses ausgezehrte, blasse Gesicht, die fahle, knittrige Haut, die eingesunkenen Augen, die trockenen, farblosen Lippen. Sie war dehydriert und ihre Wange kalt. Ihre Hand fühlte sich eiskalt an. Andrea roch Urin. Sie schob die Hand unter den Körper des Kindes.
Tatsächlich. Sie war so nass wie der Sitz unter ihr. Kein Wunder, dass sie kalt war. Zumindest bedeutete das, dass die Dehydration bisher noch keinen kritischen Punkt erreicht hatte. Trotzdem war Andrea versucht, ihren Puls zu überprüfen, nur um festzustellen, ob sie einen hatte.
»Was zur Hölle tun Sie denn da?«
Die tiefe Stimme des Mannes ließ Andrea vor Schreck zusammenzucken. Sie drehte sich um und schaute ihn an. »Äh, Verzeihung. Ich wollte nur sehen, wie es Ihrer Tochter … «
»Das ist nicht nötig.«
»Aber sie ist nass«, protestierte Andrea. »Ihr wird kalt werden. Und sie … «
»Ihre Mutter wird sie umziehen, sobald wir Frankfurt erreichen.«
Frankfurt? Andrea starrte ihn ungläubig an. Bis dorthin waren es noch drei Stunden. Vier, bis er das Flugzeug verlassen, den Zoll passiert und sich durch den riesigen Flughafen gekämpft hätte.
Sie betrachtete das arme kleine Mädchen und verstieß mit ihren nächsten Worten offen gegen die Regeln der Fluggesellschaft. »Wenn Sie mir eine Windel und frische Kleidung geben, ziehe ich sie gern für Sie um.«
»Nein, danke. Machen Sie sich keine Mühe«, knurrte der Mann.
»Aber das wäre keine Mühe. Sie sollte sowieso aufwachen, um etwas Flüssigkeit zu sich zu nehmen«, erklärte Andrea ernst. »Die Luft hier drinnen trocknet ein kleines … «
»Miss?« Der Mann beugte sich zu ihrem Ohr und raunte: »Warum verpissen Sie sich nicht und lassen uns in Ruhe? Dann müsste ich keine formelle Beschwerde bei der Fluggesellschaft einlegen, sowohl wegen Ihrer unangemessenen Fragen als auch der Tatsache, dass ich Sie dabei erwischt habe, wie Sie den Intimbereich meiner Tochter berührten, als ich aus dem Waschraum zurückkam. Was meinen Sie?«
Andrea wich zurück. Ihr Herz wummerte, sie lief feuerrot an. Sie huschte davon, Tränen des Schocks und der Empörung schnürten ihr die Kehle zu.
Sie besprach sich mit ihren Kolleginnen, aber es wurde bald Zeit, das Frühstück zu servieren. Der Flieger war rammelvoll, die Passagiere wachten gerade auf und streckten die Beine aus, und niemand vom Rest der Crew hatte Lust, sich mit einem Irren anzulegen. Schon gar nicht, da die Landung kurz bevorstand und sich das Problem damit von selbst erledigen würde.
Die nächsten zweieinhalb Stunden krochen im Schneckentempo dahin. Andrea ignorierte den Mann, trotzdem spürte sie seinen Blick auf sich wie glühende, boshafte kleine Nadeln, die sie in den Hals stachen. Das Mädchen regte sich nicht, auch nicht während der rüttelnden, dröhnenden Landung. Als sich die Türen öffneten, warf John Esposito sich das Mädchen über die Schulter, sodass Kopf und Arme der Kleinen schlaff über seinen Rücken hingen, dann wartete er teilnahmslos in der Schlange. Er hatte nur einen Aktenkoffer dabei.
Einen Aktenkoffer? Er hatte noch nicht mal eine Wickeltasche? Welcher Vater würde eine Zweijährige ohne eine Tasche auf einen fünfzehnstündigen Nachtflug mitnehmen? Kein Buch, kein Spielzeug, kein Snack. Keine Feuchttücher, kein Fläschchen, kein Schnuller, keine Taschentücher. Ganz zu schweigen von Windeln oder Ersatzkleidung. Als ginge ihn das alles nichts an.
Irgendetwas war hier faul. Irgendetwas stimmte überhaupt nicht an diesem Bild.
Ihr Magen rebellierte. Sie stand neben ihren Kolleginnen, als die Passagiere ausstiegen, und flötete wie ein dressierter Papagei: »Auf Wiedersehen. Auf
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