Stunde der Vergeltung (German Edition)
nachdem auf dem Areal darüber gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ein Gewächshaus errichtet worden war. Dieses war allerdings während Vals Dienstzeit hier nicht als Treibhaus, sondern hauptsächlich als Abstellkammer und Waffenraum benutzt worden. Gabor Novak war niemand, der ein Interesse daran hatte, Leben zu hegen und zu pflegen, ob nun tierisch oder pflanzlich. Doch das Gewächshaus lag innerhalb der Sicherheitszone.
Die Überlaufbohrung befand sich in dem schmalen oberen Schacht des Brunnens. Drei Meter über seinem Kopf war die Öffnung gewesen. Val erinnerte sich, dass es innerhalb des Brunnens ein wenig Licht gegeben hatte, das durch die Löcher in der Eisenplatte über dem Zugang hereinfiel, aber er konnte die kleinen Löcher kaum ausmachen. Das schwindende Licht des Abends drang nicht durch sie hindurch. Unter ihm erweiterte sich der enge, rundgemauerte Schacht zu einer riesigen, gähnenden, antiken Niederschlagswasserzisterne. Zehn, zwölf Meter tief. Dort hinunterzustürzen würde einen sehr schlimmen, langsamen, einsamen Tod bedeuten, so man nicht das Glück hatte, sich sofort das Genick zu brechen.
In der Dunkelheit tastete er die Wand nach den rostigen Stufen der Eisenleiter ab, die dort befestigt waren – in der Hoffnung, dass was auch immer auf der Eisenplatte lag, nicht zu schwer sein würde, um es hochzustemmen. In der Hoffnung, dass Tamar noch immer …
Nein . Immer geradeaus. Beweg dich.
Mit den Zähnen biss er fest auf die Taschenlampe, während er seinen Oberkörper weiter nach oben schlängelte und nach der ersten Sprosse hangelte. Doch sie löste sich aus der Wand.
Val ruderte wild mit den Armen, um Halt zu finden, dabei rutschte ihm die Taschenlampe aus dem Mund. Mit gespreizten Beinen suchte er Halt in der gefluteten Röhre, er krallte die zitternden, steifen Finger in die gegenüberliegende Wand und tastete mit der Hand seiner verletzten Schulterseite nach einer anderen Sprosse. Ein kühl denkender, abgelöster Teil seines Hirns zählte die vielen, vielen Sekunden, die vergingen. Die Eisensprosse, plopp . Die Taschenlampe, plopp .
Es stand Wasser in der Zisterne. Aber es war schwer zu sagen, wie viel und aus welcher Quelle. Vielleicht wartete auf ihn der Tod durch Ertrinken anstelle eines gebrochenen Genicks. Es war unwichtig. Er hatte keine Präferenzen.
Val tastete höher und bekam die nächste Sprosse zu fassen. Um sie zu testen, würde er seinen gesamten Oberkörper hinaufhieven müssen. Sollte auch sie nachgeben, wäre ein Sturz unvermeidlich. Es gab keinen rationalen Grund zu der Annahme, dass diese robuster sein sollte als die darunter. Gleichzeitig hatte er noch weniger Grund, sich abzuwenden und den Rückzug anzutreten.
Verwundert merkte er, dass er leise vor sich hinmurmelte. Es war ein altes Gebet, das ihm seine Großmutter während seiner frühen Kindheit in Rumänien beigebracht hatte, bevor seine Mutter die Nase voll gehabt hatte von dem Mann, den Val als seinen Vater gekannt hatte, und dem kleinen, beschaulichen Dorf, und mit ihrem schicken Freund aus der Stadt nach Budapest getürmt war – im Schlepptau ihren kleinen, glücklosen Jungen.
Das Gebet war in einem Dialekt, an den er sich kaum noch erinnerte. Ein Sprüchlein, das er zur Schlafenszeit aufgesagt hatte, um die Monster, Bestien und Vampire fernzuhalten.
Val stemmte sich auf die Stufe. Sie bog sich leicht durch – und hielt. Er zog sich hinauf. Mit zusammengebissenen Zähnen hing er mit seinem ganzen Gewicht daran. Er wartete stoisch darauf, zu fallen und zu sterben.
Es geschah nicht. Noch nicht. Nicht in diesem Moment. Vielleicht später.
Val machte sich an den Aufstieg.
27
»Hast du jedes einzelne Schmuckstück von ihrem Körper entfernt, András?«
Die kalte, schleppende Stimme durchschnitt ihre gespenstischen Träume, die Omnipräsenz der Schmerzen. Die Laute hallten grotesk durch ihren pochenden Schädel, blendeten sich ein und wieder aus. Tam rekapitulierte die Worte und versuchte, ihnen irgendeinen Sinn zu entlocken. Dann dämmerte es ihr allmählich.
Ungarisch. Nicht ihre beste Sprache, aber sie verstand sie ganz gut.
»Selbstverständlich, Boss. Ich werde sie an Händen und Füßen fesseln. Machen Sie sich keine Sorgen. Abgesehen davon habe ich jeden Zentimeter ihres Körpers untersucht. Mehrfach. An ihr ist nur das, was Gott ihr gab.«
»Unterschätze diese Frau bloß nicht.« Tam hatte Mühe, beim Klang dieser Stimme ein Schaudern zu unterdrücken, weil sie wie die kalten,
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