Stunde der Vergeltung (German Edition)
Wiedersehen.« Sie sah John Esposito nicht an, als er mit seiner leblosen Last vorüberging, dafür beobachtete sie ihn, als er den Buggy auf der eiskalten Fluggastbrücke auseinanderklappte und das Kind hineinsetzte. Er schnallte das kleine Mädchen weder an, noch deckte er es mit irgendetwas zu.
Der Mann drehte sich zu ihr um. Er hatte gewusst, dass sie hinschauen würde. Er bedachte sie mit einem triumphierenden Lächeln, das besagte: Ich habe gewonnen, du feige, unfähige Kuh .
»Auf Wiedersehen«, verhöhnte er sie leise und winkte.
Er entschwand über den Flugsteig. Andrea setzte wieder ein halbherziges Lächeln auf und sehnte sich dabei so sehr nach Lili, dass es wehtat.
Sie musste ihr kleines Mädchen in die Arme schließen. Es drücken und knuddeln. Auf der Stelle. Aber Lili war am anderen Ende der Welt. In Portland war es mitten in der Nacht. Sie konnte noch nicht mal anrufen. Es dauerte noch Stunden, ehe Lili aufwachte. Bis dahin würde Andrea an die Decke ihres Flughafenhotelzimmers starren und warten. Mit einem beklemmenden Gefühl der Angst.
Sie könnte schon tot sein .
Val zwang sein Bewusstsein wieder in einen Zustand geistiger Leere, als er das kleine Motorschlauchboot an einer gewaltigen Kletterpflanze vertäute, die sich an der alten Steinbrücke emporrankte. Die Straße, die darüber verlief, führte zu Novaks marodem, aus dem achtzehnten Jahrhundert stammendem Palast am Fluss. Die McClouds hatten ihm Rachels Funkfrequenz per SMS geschickt, und ihr Signal war hier vor einigen Stunden zur Ruhe gekommen. Val war nicht überrascht, dass die Racheorgie in Novaks Lieblingsresidenz stattfinden sollte. Der alte Mann fühlte sich hier wie ein Aristokrat. Das Anwesen förderte seine Eitelkeit.
Val kannte das Gebäude gut. Er hatte hier einst einige einsame Jahre verbracht, nachdem Novak sein Talent für Computer und technologisches Gerät entdeckt hatte. Er hatte es sich damals zur Aufgabe gemacht, alles über das alte Gemäuer herauszufinden, nachdem er nichts Besseres mit seiner Freizeit anzufangen wusste. Das Grundstück war von Verliesen, Brunnen, Zisternen und Ablasskanälen durchzogen, und er hatte lange Stunden darauf verwendet, die antiken, in eleganter Kursivschrift handgefertigten Grundrisse, die er in der Bibliothek gefunden hatte, zu studieren. Aus purer Neugier war er durch kilometerlange Abflusskanäle, Tunnel und andere lichtleere, tropfende Löcher gekrochen. Und da Wissen Macht war, hatte er es sich zum Prinzip gemacht, seine Entdeckungen nur dann zu teilen, wenn seine Kollegen oder sein Arbeitgeber dringend eine Auskunft benötigten.
Niemand hatte je um eine gebeten.
Er konnte nur hoffen, dass seither kein anderer das Anwesen so gründlich unter die Lupe genommen hatte. Aber das war unwahrscheinlich. Durch feuchtkalte, rattenverseuchte Abwasserkanäle zu robben, gehörte zu den Dingen, die ausschließlich unausgeglichene Jugendliche freiwillig taten.
Und natürlich verzweifelte, glücklose Idioten wie er.
Er klappte den Laptop auf und überprüfte Rachels Icon. Es bewegte sich nicht. Das Satellitenbild auf dem Monitor zeigte das Grundstück aus der Vogelperspektive. Das Symbol blinkte an einem Punkt, bei dem es sich um eins der Außengebäude zu handeln schien – Garagen, die früher Ställe gewesen waren. Er verstaute den Computer in seinem Rucksack und kletterte vorsichtig aus dem Boot.
Val konzentrierte seine Gedanken auf die vor ihm liegende Aufgabe. Er ließ nicht zu, dass sie abschweiften zu dem, was sie ihr womöglich gerade …
Nein . Er kämpfte sich über schlüpfrige, moosbedeckte Steine und sperrte seine Gedanken aus, indem er ein weißes Rauschen in seinem Kopf erzeugte.
In dem flackernden, dämmrigen Zwielicht, das unter der Brücke herrschte, richtete er den Lichtstrahl seiner Taschenlampe auf das rostige Eisengitter, das vor dem Kanalschacht in der Wand angebracht war. Dem Aussehen nach stammte es aus dem Ersten Weltkrieg. Val rüttelte daran, inspizierte die maroden Bolzen. Er würde den Schweißbrenner gar nicht brauchen. Er setzte ein paar Mal das Stemmeisen an – dies für Rachel … dies für Tamar – und, oh verdammt . An seiner Schulter breitete sich von Neuem ein warmer, feuchter Fleck aus. Er hatte die Wunde wieder aufgerissen. Aber das Gitter hatte sich gelockert.
Sie könnte tot sein. Oder Schlimmeres .
Er verdrängte die Vorstellung mit aller Kraft. Sieh geradeaus! Es führte zu nichts, wenn er daran dachte. Das half ihnen nicht weiter.
Ja,
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