Stunde der Vergeltung (German Edition)
kalten Nacht war Vajda zurückgekommen. Er hatte sich in den vierten Stock geschlichen und vor der Tür gelauscht, wie Imre auf seinem Flügel spielte, während er Mut gesammelt hatte, um zu klopfen. Imre hatte ihn eingelassen, ihm wieder zu essen gegeben und ihm Bach-Inventionen vorgespielt. Er hatte ihm den Divan angeboten, allerdings hatte er dieses Mal darauf bestanden, dass Vajda zuvor badete und Imres eigenen fadenscheinigen Pyjama überzog. Er hatte ein ganzes Nest Flöhe und Läuse eingeschleppt, als er das letzte Mal dort geschlafen hatte.
Imre hatte anschließend mit Bedauern erklärt, dass er sich über Vajdas Gesellschaft zwar freue, er jedoch nicht über die Mittel verfüge, jeden seiner Besuche finanziell zu decken. Also hatte Vajda seine eigenen Wege gefunden, diese Zeiten zu finanzieren, und seinen ungewöhnlichen sicheren Hafen aufgesucht, wann immer er es wagte.
Er war kaum des Lesens mächtig gewesen, aber damit war er bei Imre an der falschen Adresse. Sein Ziehvater war ein anspruchsvoller Lehrer. Ob Geschichte, Philosophie, Mathematik oder Fremdsprachen, Vajda saugte alles auf wie ein durstiger Schwamm. Neben Ungarisch beherrschte er bereits das Rumänisch seiner frühen Kindheit, sowie das Gossenitalienisch, das er von Giulietta, der Zimmergenossin seiner Mutter, aufgeschnappt hatte. Imre brachte ihm noch mehr bei: Englisch, Französisch, Russisch. Er versuchte sogar, Vajda im Klavierspiel zu unterrichten, doch nach mehreren anstrengenden Sitzungen musste er einsehen, dass der Junge nicht über das geringste musikalische Talent verfügte.
Als Vajda heranwuchs und brutal genug wurde, um selbst andere einzuschüchtern, und eine Karriere vom Taschendieb zum Strichjungen, Zigarettenschmuggler und Heroindealer hinter sich hatte, hatte er sich auf die einzige ihm mögliche Art bedankt, nämlich indem er alle auf der Straße hatte wissen lassen, dass er jeden, der es wagte, sich an Imre zu vergreifen, ausnehmen würde wie einen Fisch.
Verfluchter Idiot, der er damals war. Er hätte einfach die Schnauze halten sollen.
»Großer Gott, Vajda! Wach auf!«
Imres entrüstete Stimme riss Val aus seiner Gedankenverlorenheit. »Hä?«
Als er sich umdrehte, stellte er fest, dass der alte Mann, schwer auf seinen Stock gestützt mit finsterer Miene in der Küchentür stand. »Der Kessel pfeift schon seit fünf Minuten wie eine Lokomotive!«, rief Imre über den Radau hinweg. »Stehst du unter Drogeneinfluss? Das würde zumindest dein Schachspiel erklären!«
» Ah, cazzo .« Val riss den kreischenden Kessel von der Gasflamme.
Das vertraute Teeritual schuf ein zaghaftes Gleichgewicht zwischen ihnen, trotzdem machte das ausgedehnte Schweigen Val nervös.
Schließlich setzte Imre seine Tasse mit einem entschiedenen Klacken ab und verschränkte seine geschwollenen, arthritischen Finger. »Vajda.«
Die schwere, predigende Betonung, die er auf den Namen legte, veranlasste Val, sich zu wappnen. »Nenn mich nicht so«, wiederholte er unwirsch. »Das habe ich dir schon vorhin gesagt.«
Imre winkte ungeduldig ab. »Wenn ich sterbe, darfst du … «
»Du wirst nicht sterben«, fiel Val ihm ins Wort.
»Sei nicht kindisch«, sagte Imre streng. »Lass mich ausreden. Wenn ich sterbe, geh nicht wieder das Risiko ein herzukommen, um mich zu beerdigen. Betrauere meinen Tod, wie immer es dir beliebt – aus der Ferne. Ich werde sicher und glücklich bei Irina und Tina ruhen. Schwöre es mir, Vajda.«
Von einem unerklärbaren Zorn gepackt, sprang Val auf, sodass die Teetassen auf dem überladenen Tisch klirrten. »Nein«, fauchte er. »Ich schwöre niemandem irgendetwas.«
Imre musterte ihn finster. Sein grimmiger Mund war geschwollen und im Mundwinkel verschorft wegen der aufgeplatzten, übel zugerichteten Lippe, die er seinem Überfallkommando zu verdanken hatte.
Innerlich kochend, stapfte Val in die Diele und zog sich seinen Mantel über. Imre kam nicht aus der Küche, um ihm Auf Wiedersehen zu sagen. Auch gut. Es gab nichts mehr zu besprechen, und wenn Val nun noch einmal den Mund aufmachte, dann würde er brüllen. Er stürmte die vier Stockwerke hinab und raus in die eiskalte Nachtluft. Es herrschte dichtes Schneegestöber, genau wie in der Nacht, als er Imre zum ersten Mal begegnet war.
Unliebsame Bilder stürmten auf ihn ein, als er den schwarzen BMW sah, der am Randstein parkte. Der Fahrer war ein anonymer dunkler Schemen. Das Schloss sprang auf, als er sich näherte. Sein Magen verkrampfte sich. Für eine
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