Stunde der Vergeltung (German Edition)
entsetzliche halbe Sekunde war er wieder ein schlotternder Zwölfjähriger.
Ihm blieb keine andere Wahl, als einzusteigen und mitzufahren, wohin auch immer der Wagen ihn bringen mochte.
Er zögerte. Gewinne Abstand . Er war nicht länger dieser hilflose Junge.
Val spuckte in den Rinnstein, zog die hintere Tür auf und glitt auf den Rücksitz. Er war groß und kräftig, trug feine Kleidung, einen teuren Haarschnitt, gute Schuhe und einen Kaschmirmantel, hatte Geld in der Tasche und noch viel mehr auf der Bank. Seine Schusswaffen hatte er heute Abend nicht dabei, weil sie Imre nervös machten, dafür aber seine Messer. Er hatte jahrelang Kampftraining gehabt, außerdem hatte er Augen im Hinterkopf.
Nein, er war alles andere als wehrlos. Es gab wenige Menschen auf der Welt, die besseres Rüstzeug mitbrachten als er. Trotzdem hatte er das Gefühl, einem verdammten Krokodil ins Maul zu klettern, als er in dieses Auto stieg.
Zum Glück hatte jene Phase der Unsicherheit in seinem Leben nicht lange angehalten. Er war schnell gewachsen, zu groß und äußerlich angsteinflößend geworden für Kustlers Stall. Aber sie hatten bald eine andere Verwendung für ihn gefunden, in der Heroinversorgungskette.
Geprägt von der Erinnerung an die Einstichstellen und hohlen Augen seiner Mutter hatte Val den Drogenhandel verabscheut. Er war elf gewesen, als er sie im Bad auf dem Boden gefunden hatte – erstickt an ihrem eigenen Erbrochenen.
Es war derselbe Tag, an dem dieses Dreckschwein Kustler, der Zuhälter seiner Mutter, vorbeigekommen war, ihn von Kopf bis Fuß gemustert und beschlossen hatte, dass nicht alles verloren war. Vajda hatte einen bedauerlich dunklen Teint, trotzdem war er hübsch. Also beschloss Kustler, dass der Sohn sich bestens eignen würde, den Job seiner Mutter zu übernehmen.
Val schrak vor der Erinnerung an jenen Tag zurück.
Ja, er hasste Drogen. Doch man sagte nicht Nein zu Daddy Novak oder zu einem seiner Untergebenen, wenn man gern am Leben bleiben wollte.
Wobei »gern« vielleicht das falsche Wort war. Val hatte sich aus purem Trotz ans Leben geklammert. Am Leben zu bleiben war seine Leck-mich-Botschaft an die Welt. Der Zorn hielt ihn am Leben. Imre war der Einzige gewesen, der ihm noch eine andere Seite aufgezeigt hatte.
Es war ironisch, dass er Imre am besten dadurch schützte, indem er sich überhaupt nicht um ihn kümmerte. Denn jeder, der Val wichtig war, lief Gefahr, auf einem Badezimmerboden zu enden. Und je wichtiger der Mensch, desto größer die Wahrscheinlichkeit. Val wünschte, er könnte sich vollständig distanzieren. Einfach davontreiben.
Der Schnee fiel immer dichter, die Flocken stoben durch die Luft und verschleierten die Stadt, bis sie nur noch ein trostloses, schneeverwirbeltes Niemandsland war. Val blickte aus dem Fenster und versuchte, ihren Weg anhand von Orientierungspunkten aus seiner Kindheit nachzuverfolgen. Jede Stelle, die er wiedererkannte, löste ein Feuerwerk unschöner Erinnerungen aus.
Als er älter geworden und zu einem intelligenten jungen Mann mit einer ungewöhnlichen Sprachbegabung und einem Talent für Computer herangewachsen war, hatte er, ohne es wirklich zu wollen, dadurch die Aufmerksamkeit des höchsten Bosses, Gabor Novak, erregt. Vajda war nützlich, nachdem Novaks Geschäft florierte und er weltweit expandierte. Bald darauf wurde er von Budapest abkommandiert und in Novaks Palast an der Donau stationiert, weit weg von den Verlockungen der Großstadt, um dort an Verschlüsselungssoftware, Internetmarketing und Unternehmensdokumentation zu arbeiten. Seine Aufgabe war ein Fass ohne Boden gewesen. Aber zumindest nicht blutig.
Jedenfalls auf den ersten Blick nicht. Auf den zweiten Blick gab es immer irgendwo Blut.
Gabor Novak stammte ursprünglich aus der Ukraine. Er hatte eine Ungarin geheiratet, ihren Namen und ihre Nationalität angenommen und seine illegalen Geschäfte auf ganz Osteuropa – Budapest, Riga, Prag – ausgedehnt. All das, bevor er seine Frau ermordet hatte – wenigstens ging so die Legende.
Imre hatte versucht, seinen Ziehsohn aus Novaks Organisation loszueisen, aber Val wusste instinktiv, was Imre einfach nicht kapieren wollte: wie weit Männer wie Kustler gehen würden, um ihr Territorium zu schützen. Man würde Imre für seine Einmischung die Eier abschneiden und die Kehle aufschlitzen – so er denn Glück hatte. Falls nicht, gab es Methoden, die sich wesentlich länger hinzogen. Val hatte es zu seinem Bedauern schon mit
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