Stunde der Vergeltung (German Edition)
Halbedelsteine, die sie ausgewählt hatte, wirkten stumpf und langweilig. Das Schmuckstück pulsierte und lebte nicht, es wisperte auch keine verführerischen ominösen Botschaften. Ihm fehlte jede Bedrohlichkeit, jede Antriebskraft, jeder Sexappeal. Es war eine Halskette, die eine flippige College-Studentin mit Nasenpiercing einem zugekifften Flohmarkthändler in Seattle für fünfzehn Dollar abkaufen würde, keine »Tödliche Schönheit«.
Tamara verlor ihr Fingerspitzengefühl, den Blick, den Fokus. In einem Wort: alles. Vielleicht lag es am Schlafmangel – nicht dass sie je viel geschlafen hätte.
Das Lämpchen über der Tür blinkte. Rosalia versuchte, sie über die Gegensprechanlage zu erreichen. Tam nahm die Ohrhörer ab und dachte dabei wehmütig an die zwölfstündigen Arbeitsschichten, die sie früher eingelegt hatte. Hochkonzentriert, ohne jede Störung. Tief versunken in der Abgeschiedenheit ihres verdrehten Verstandes.
Diese Tage gehörten der Vergangenheit an. Und daran war niemand anders schuld als sie selbst.
Sie drückte auf den Knopf, um die von Wein und Zigaretten rauen Stimmen und ihre schwermütige, melancholische spanische Zigeunermusik abzustellen. Eine sentimentale Wahl. Untypisch für sie. Normalerweise bevorzugte sie Hardrock. Hitziger, fieberhafter Lärm, um den Nebel in ihrem Kopf zu vertreiben und sie an die fernen Orte zu versetzen, wo ihre funkelnden, glitzernden Schmuckstücke als Vision in ihrem Kopf geboren wurden.
Sie betätigte die Gegensprechanlage. »Ja, Rosalia? Was gibt es?«
»Ein Gast«, antwortete Rosalia in dem Portugiesisch ihrer Heimat Brasilien. »Ein roter Volkswagen. Ich denke, es ist die dunkelhaarige Dame mit dem kleinen Jungen.«
Tam ließ das Gesicht in die Hände sinken. Nein. Bitte. Nicht schon wieder Erin.
Ihr letzter besorgter Besuch lag erst eine Woche zurück. Sie hatte das Paradebeispiel einer glückseligen mütterlichen Madonna abgegeben, ihr Baby gestillt, es geherzt und getröstet, während sie Tam mit sanften, gut gemeinten, unglaublich irritierenden Ratschlägen überhäuft hatte.
Sie schleuderte die Schutzbrille beiseite und klickte auf dem Computermonitor in ihrem Atelier das Sicherheitsprogramm an. Ja, kein Zweifel. Es war Erins roter VW Käfer, der da draußen jenseits der äußersten Verteidigungslinie parkte und auf eine Einladung wartete. Tam wechselte zu einer anderen Kameraperspektive und erkannte den Kindersitz auf der Rückbank, mit Kevs pausbäckigem Profil darin. Wahrscheinlich gierte er schon jetzt nach seiner Flüssigmahlzeit. Es gab kein Entrinnen.
Ihr Seufzen klang fast wie ein Knurren, als sie die verschiedenen Sicherheitssysteme deaktivierte. Zeit, sich für die nervtötenden Fragen zu wappnen. Hatte sie inzwischen einen Bluttest machen lassen, um sich auf Anämie checken zu lassen? Nahm sie irgendwelche Multivitaminpräparate und Mineralstoffergänzungsmittel ein? Hatte sie Lust auf ein weiteres Barbecue am Sonntagmittag mit der gesamten McCloud-Truppe? Worauf die Antwort jedes Mal lautete: Nein, nein, nein, lass mich endlich in Frieden .
Aber Erin war zäh. Dickhäutig. Sie gab nicht so schnell auf. Ihr Wagen fuhr wieder an, und Tam beobachtete verdrießlich, wie er die Straße heraufrollte. Die McClouds fanden ihre Verteidigungsmaßnahmen zum Totlachen, aber das kümmerte Tam einen feuchten Dreck. Daddy Novak würde Connor und Erin samt Nachwuchs vermutlich am liebsten gleich mit abmurksen, wegen ihrer Beteiligung an Kurt Novaks Tod. Aber wenn sie sich unbedingt Zielscheiben auf die Hinterteile malen und sie in den Wind hängen wollten, war das ihre Privatsache. Tam hielt sich da raus.
Sie wusch sich die Hände und stapfte die Treppe hinunter zur Eingangstür. Im großen Wohnzimmer türmten Rachel und Rosalia gerade Bauklötze aufeinander. Kaum dass die Kleine Tamara sah, ließ sie alles stehen und liegen und tapste vor Freude quietschend mit ausgestreckten Armen auf sie zu. Tam nahm sie hoch und drückte sie fest an sich. Sie hob das kleine Mädchen in die Luft und schätzte sein Gewicht ein. Ein bisschen schwerer diese Woche. Dreißig Gramm vielleicht, je nachdem ob die Windel nass war oder nicht. Seit sie Rachel bei sich aufgenommen hatte, war Tam zu einer menschlichen Präzisionswaage mutiert.
Erin, die den Wagen in der Garage geparkt hatte, hob gerade den kleinen Kev aus seinem Sitz, als Tam die Tür öffnete. Obgleich zwei Jahre jünger als Rachel, war die feiste, kleine Rotznase fast genauso groß. Tam
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