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Stunde der Vergeltung (German Edition)

Stunde der Vergeltung (German Edition)

Titel: Stunde der Vergeltung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shannon McKenna
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durch das dichte Schneetreiben. An der Széchenyi-Kettenbrücke blieb er stehen und starrte hinauf in das mitleidlose, unversöhnliche Gesicht eines der Löwen. Der Wind nahm ihm den Atem. Er sah Imre vor sich, gebückt in seiner beengten Küche, wie er für ihn in Ei getunktes Brot in die Pfanne legte und dabei über Sokrates und Descartes dozierte.
    Imre, dem Blut aus Mund und Nase strömte, die Augen erfüllt von stummem Leid. Imre mit verstümmelten Händen, von denen das Blut tropfte.
    Val torkelte zur Seite und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Er würgte noch lange, nachdem sein Magen schon leer war. Seine Augen tränten, ihm lief die Nase. Das dunkle Wasser der Donau wälzte sich unter ihm hindurch. Er sehnte sich nach ihrer eisigen, luftlosen Dunkelheit. Und das nicht zum ersten Mal. Er dachte an seine Mutter.
    Nein . Das entsprach nicht seinem Naturell. Scheiß auf sie alle. Er war zu zornig, um seiner Sehnsucht nachzugeben.
    Val richtete sich gerade auf, wischte sich mit einem zu Eis erstarrten Ärmel übers Gesicht, dann setzte er, die Schmuckschatulle und die Akte unter den Arm geklemmt, schlurfend seinen Weg zum Hotel fort. Sein Gespräch mit Hegel fiel ihm wieder ein. Es schien so lange her zu sein.
    Er fing an zu lachen. Wenigstens musste er jetzt nicht länger befürchten, dass Hegel Imre etwas zuleide tun würde. Sein Freund konnte nur von einem Schurken in Stücke gerissen werden.
    Das Lachen tat seinen angeknacksten Rippen weh, also hörte er auf.
    Zumindest ahnte Novak nichts von dem Kind. Daran klammerte Val sich fest. Er bemerkte, dass er noch immer die Ampulle festhielt, auch wenn seine tauben Finger es kaum spürten. Er brach die Spitze des glatten Glaszylinders ab und inhalierte tief.
    Es war ein Probefläschchen mit einem neuen Duft, den sein Parfümeur in der Provence eigens für ihn kreiert hatte. Ein extravaganter Luxus, aber warum nicht? Er verfügte über die entsprechenden Mittel. Außerdem liebte er exklusive Düfte.
    Das Parfüm war sinnlich, mit einer Note süßer Hölzer, der fleischigen Nuance von Waldpilzen, dem warmen, würzigen Aroma von Kiefern, Lavendel und Salbei. Ein armseliger Pyrrhussieg, gemessen an dem Druckmittel, das Novak gegen ihn in der Hand hatte, trotzdem würde Val sich an jedem noch so kleinen Triumph festhalten. Drei weitere Tage Sicherheit für Imres Finger, erschlichen durch einen Parfümflakon.
    Er tupfte ein wenig von der Essenz auf seine Haut und schnupperte daran. Sein Körper war zu kalt, um den Duft freizusetzen, und das Innere seiner Nase fühlte sich wie Eis an, trotzdem roch er ihn ein ganz klein wenig, und die erdige, sinnliche Note wärmte ihn.
    Val musste unwillkürlich an Tamara Steele denken. An dieses geheimnisvolle Lächeln, das auf dem Abendkleidfoto ihre Lippen umspielte. An das Bild von ihr in dem schwarzen Kleid, mit den Wildblumen in ihrer ausgestreckten Hand. Lavendel und Gänseblümchen. Ihr wunderschönes blasses Gesicht, überschattet von einer nachklingenden Traurigkeit.
    Dann stürmte die Vision von Imres verstümmelten Händen erneut auf ihn ein. Nachdem Val jahrelang seine Distanziertheit kultiviert hatte, war er es nicht mehr gewohnt, Angst zu empfinden. Das Gefühl war extrem unangenehm.
    Sollten sie Imre umbringen, dann wäre alles vorbei. Es gäbe keinen Grund mehr für ihn, auch nur ansatzweise menschlich zu bleiben.
    Du bist ein jaulender Hund, der um Tischabfälle bettelt.
    Es war die Wahrheit. Sein Aktienportfolio hatte inzwischen einen Nettowert in Millionenhöhe, trotzdem ernährte er sich noch immer von Tischabfällen. Ein Schachspiel alle paar Jahre. Alte Erinnerungen an Eier und Brot, in Butter ausgebacken, an Sokrates und Descartes, an Bach-Inventionen auf dem Flügel. An den durchgesessenen, staubigen alten Divan. Und bald schon an ein moosüberwuchertes Grab mit Imres eingemeißeltem Namen darauf.
    Tischabfälle – mehr hielt das Leben nicht für ihn bereit.

5
    Tam murmelte etwas Unflätiges in einer halb vergessenen Sprache, als sie die Schutzbrille von ihrer Nase riss. Sie strich sich die Haare aus der schweißnassen Stirn und pfefferte den widerspenstigen Anhänger auf die Werkbank.
    Sie hasste ihn. Die Farben wollten einfach nicht harmonieren. Sie hatte ein Geflecht aus Bronze und grünstichigem Kupfer vor Augen gehabt, überlagert von empfindlichem, filigranem Gold, um den Mechanismus zu verbergen, in dem die kleine Injektionsnadel steckte, aber das Ganze war nicht wirklich stimmig, und die

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