Stunde der Vergeltung (German Edition)
endlosen Folge traumatischer Albträume und großenteils schlafloser Nächte war sie momentan zu dünnhäutig, aufgewühlt und frustriert, um ihren Schutzschild oben zu halten. Sie hasste das.
»Läuft es inzwischen etwas besser?«, erkundigte sich Erin sanft.
Irritiert verfiel Tam in Angriffsmodus. »Läuft was besser?«, fauchte sie. »Wovon zur Hölle sprichst du?«
Erin zuckte die Achseln. »Ganz allgemein. Deine Gesundheit. Dein Schlaf, dein Appetit, deine Tochter. Da du mir nichts Genaues erzählst, muss ich meine Fragen allgemein halten.«
»Warum musst du mir überhaupt Fragen stellen? Wo steht das geschrieben?«
»Ich tue es, weil ich mich um dich sorge«, sagte Erin mit ruhiger Halsstarrigkeit.
Tams Beschämung darüber, dass sie sich wie eine verwöhnte, trotzige Zicke aufführte, trug nicht gerade dazu bei, ihre Stimmung aufzuhellen. Sie spürte, wie ihre Verärgerung weiter anwuchs. »Ich habe dich nicht gebeten, dich um mich zu sorgen«, fauchte sie.
Erin bedachte sie mit einem tadelnden Blick. »Dein Problem«, konterte sie trocken. »Ich weiß, du wirst das schwer glauben können, aber tatsächlich bin ich heute noch aus einem anderen Grund gekommen, als nur, um dich zu drangsalieren und dir deine Zeit zu stehlen.«
»Wie erstaunlich«, spottete Tamara.
Die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst, schwieg Erin eine ganze Weile. Tam konnte fast hören, wie sie bis zehn zählte und um Geduld flehte. Das löste bei ihr eine Mischung aus schlechtem Gewissen und Befriedigung aus. Sie hatte an Erins Schutzmantel zenartiger, hormongesteuerter Gelassenheit gekratzt. Der Punkt ging an sie. Tam bemühte sich nach Kräften, ihren Triumph zu genießen.
Erin atmete langsam und bedächtig aus, was sie bestimmt in einem entspannenden New-Age-Yogakurs gelernt hatte. Rein mit den guten Schwingungen, raus mit den schlechten. »Es geht um diese sehr merkwürdige Sache, die mir gestern bei der Arbeit passiert ist. Es könnte eine lukrative Geschäftsmöglichkeit für dich sein«, erklärte sie.
Tamara blinzelte. Das kam mehr als unerwartet. »Wovon sprichst du?«
»Vom Museum. Es hat sich ein Mann an mich gewandt, der extra aus Rom angereist ist, um meine Expertise zu der Nachbildung eines thematisch der Keltenzeit entstammenden Schmuckstücks, das er erworben hat, einzuholen. Er versucht, den Designer ausfindig zu machen, und hatte den Hinweis bekommen, dass er aus dieser Gegend sein soll. Als er die Schatulle öffnete, sind mir fast die Augen aus dem Kopf gefallen. Es handelte sich um eine deiner Kreationen.«
Tam spürte eine unangenehme Eiswelle von ihrer Magengrube in ihre Glieder überschwappen. »Welche?«
»Ein Halsreif. Der, den du nach mir benannt hast. Der Erin.«
Tam trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte, dabei starrte sie in ihre mit schwarzem Kaffee gefüllte Tasse. Der Erin. Ein Stück, das sie angefertigt hatte, um den Dämon Kurt Novak zu exorzieren – nicht dass es funktioniert hätte. »Beschreib ihn mir«, verlangte sie.
Erin schaute verwirrt drein. »Das habe ich doch gerade. Er gehört zu dieser Serie … «
»Keine zwei Stücke sind identisch«, unterbrach Tam sie. »Sag mir, welche Steine er hat und wie viele, die Farbgestaltung, die Anzahl der Goldschnüre in dem Geflecht, die Größe des Endstücks. Rubine oder Granate? Amethysten oder Saphire?«
»Oh.« Sie überlegte einen Moment. »Er war dem Original sehr ähnlich«, sagte sie. »Aber bei den Steinen handelte es sich um Rubine mit Cabochon-Schliff, denke ich. Nicht um Granate.«
»Okay.« Tam speicherte das ab und merkte sich vor, den Zwischenhändler in Marseille zu kontaktieren, der diesen speziellen Deal eingefädelt hatte, dann trommelte sie wieder mit den Fingern, während sie die Information wortlos verarbeitete.
Sie war zutiefst alarmiert. Und schockiert. Jemand, der in der Lage war, Erin mit der Designerin von »Tödliche Schönheit« in Verbindung zu bringen, musste über Kontakte verfügen, die für sie alle nur großen Ärger bedeuten konnten. Tam hatte sich für den Notfall verschiedene Pässe und Identitäten für sich und Rachel zugelegt, außerdem mehrere über den ganzen Globus verteilte Verstecke in entlegenen Gebieten, nur waren diese Identitäten nicht so ausgereift und wasserdicht wie ihre aktuelle. Und eine Frau mit einem Kind war auffallender, einprägsamer.
Und verletzbarer.
Abgesehen davon mochte sie dieses Zuhause. Rachel mochte es auch. Und sie genoss ihre Arbeit, sehr sogar.
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