Stunde der Vergeltung (German Edition)
Schwachstellen bei den McClouds gefahndet. Aber es gab bei den McClouds keine Schwachstellen, keine Fehler, nichts, das sich ausbeuten ließ. Der gesamte Klan legte ein absolut redliches Geschäftsgebaren an den Tag. Es war offensichtlich ein Familiencharakteristikum. Ihre Bankkonten, Aktienportfolios und Steuererklärungen verblüfften ihn. In Italien würde diese Art von Ehrlichkeit und Transparenz ein Unternehmen binnen Minuten ruinieren. Doch allem Anschein nach waren sie erfolgreich. Es war ein Mysterium.
Val hatte Steele aus den Augen verloren. Panik machte sich in ihm breit. Ängstlich hielt er in der Menge nach ihrem bronzefarbenen Kleid, der hellen Haut ihres Gesichts und ihrer Arme, dem Glanz ihres hochgesteckten mahagonibraunen Haars Ausschau.
Erst als er sie entdeckte, bekam er wieder Luft.
Tam fasste über den Tisch und streichelte über die weichen roten Löckchen der kleinen Jeannie, Davys und Margots Tochter. Dabei sinnierte sie, wie hübsch das Baby doch war, mit seinen riesigen blaugrauen Augen und dem lustigen Grinsen, das die vier winzigen perlweißen Zähnchen hervorblitzen ließ – zwei oben, zwei unten.
Margot klappte der Mund auf. Tam konnte angesichts ihrer Miene nur mit Mühe ein Kichern unterdrücken. Tatsächlich fühlte sie sich seltsam milde gestimmt – für ihre Verhältnisse. Sie hatte auf nüchternen Magen eine ordentliche Menge Rotwein getrunken, und zum Glück entspannte sie sich nun endlich. Sie hatte sich gefühlt, als bestünde sie aus zum Zerreißen straff gespannten Stahlkabeln. Eine derart übermächtige Spannung musste sich irgendwann entladen. Es war ein physikalisches Gesetz, wie die Schwerkraft. Wenn man das nicht respektierte, geschahen schlimme Dinge.
Endlich ließen ihre Kopfschmerzen nach, und Tam stellte wohlwollend fest, wie hübsch herausgeputzt alle McClouds aussahen. Ein wahrer Augenschmaus, wie Nick es ausdrücken würde. Sie stützte das Kinn auf ihre verschränkten Finger und bewunderte die Zärtlichkeit, mit der Seth die Hände auf Raines Schwangerschaftsbauch legte und ihr etwas ins Ohr flüsterte, das sie zum Erröten brachte. Süß. Das war es wirklich. Tam meinte es noch nicht mal süffisant. Sie lächelte zustimmend. Seth bemerkte es überrascht und musste noch mal hingucken, um es glauben zu können.
Vielleicht hatte Janos recht, wenn er sie eine verkappte Romantikerin nannte.
»Ich habe Janos’ Hintergrund durchleuchtet«, informierte Davy sie leise.
Sag bloß. Das hab ich auch, Schwachkopf, und zwar gleich nachdem ich von seiner Existenz erfuhr . Aus unerfindlichen Gründen verzichtete sie darauf, das laut auszusprechen. »Und?«, entgegnete sie freundlich.
»Er sieht sauber aus«, erklärte Davy vorsichtig. »Tatsächlich sieht er zu sauber aus. Viel zu sauber, für meinen Geschmack.«
Tam drehte sich um und musterte den Mann, um den es ging. Er stand in der Warteschlange vor dem Büfett, wo er sich angestellt hatte, um Tams Teller zu füllen. Sie betrachtete seine breiten Schultern, die elegante Kopfform, den feinen Schnitt seines Sakkos, seinen perfekt geformten Hintern.
»Ja, nicht wahr«, gab sie zurück. »Direkt zum Anbeißen.«
Margot verschluckte sich, so sehr musste sie lachen. Davys Verwirrung verwandelte sich in sichtliche Besorgnis. »Fühlst du dich gut, Tam?«
»Ja, absolut«, bestätigte sie munter. »Vielleicht ein klitzekleines bisschen betrunken.«
»Möchtest du dich ein wenig hinlegen oder so?«
Seine Sorge rührte Tam, so unangebracht sie auch sein mochte. »Nein, danke.«
Sie wandte sich ab und fing Erins Blick auf. Erin stillte diskret ihren Sohn unter einem Tuch. Zum ersten Mal fiel Tam diese Madonna-mit-Kind-Szene nicht auf die Nerven.
»Sveti hat mir erzählt, dass du sie extra für die Hochzeit hast einfliegen lassen«, sagte Erin.
Tam nickte. »Vielleicht wird sie herkommen und ein Jahr an einer amerikanischen Highschool absolvieren, sofern sie ihre Mutter überreden kann, dem zuzustimmen. Sie würde dann bei uns wohnen.«
»Wenn ich ihre Mutter wäre, würde mir das schwerfallen«, antwortete Erin leidenschaftlich. »Ich würde das Mädchen an einer Heizung festketten.«
Sie dachten an den Albtraum, den Svetis Mutter vergangenes Jahr nach der Entführung ihrer Tochter durch Zhoglo und der Ermordung ihres Mannes durchlebt haben musste. Monate qualvoller Ungewissheit.
»Da wir gerade von Mutterschaft sprechen«, begann Tam. »Ich … ich muss dich um einen Gefallen bitten.«
Erins Augen wurden groß.
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