Stunde der Vergeltung (German Edition)
»Nur raus damit.«
»Es geht um Rachel.« Tam holte tief Luft, dann zwang sie sich vorzupreschen. »Sollte mir irgendetwas zustoßen – würdet du und Connor … «
»Ja«, unterbrach Erin sie. »Gott, ja. Das musst du doch nicht erst fragen.«
Ein unerwartet heftiges Gefühl der Erleichterung ließ Tam in ihrem Stuhl zusammensacken. »In meinem Testament vermache ich ihr Geld, aber ich habe noch immer nicht das Sorgerecht«, gestand sie. »Die Adoption ist noch nicht durch. Es gibt da ein paar Probleme. Sollte mir irgendetwas passieren, bevor ich sie lösen kann, müsstet ihr um sie kämpfen.«
»Wir würden um sie kämpfen«, versicherte Erin. »Verlass dich drauf.«
Die Bestimmtheit, mit der sie das sagte, tröstete Tam. Tränen brannten in ihren Augen. »Danke«, murmelte sie mit belegter Stimme. »Das ist gut.«
Janos tauchte an ihrer Seite auf und servierte ihr einen Teller mit diversen kleinen Appetithäppchen. Er schenkte ihr noch ein Glas Wein ein und strahlte sie mit diesem umwerfenden Lächeln an. Die tiefen Grübchen, die seinen Mund flankierten, der leichte Bartschatten, der Fächer aus Lachfältchen um seine Augen … dazu diese Aura von Gefahr, die Verlockung des Unbekannten, seine eiserne Beharrlichkeit, und fertig war dieses Wunder der Natur.
Novak. Luksch . Pflichtbewusst rief sie sich ihre Feinde ins Gedächtnis, aber die Alarmglocken in ihrem Kopf klangen fern und gedämpft. Gewiss, Valery Janos war ein Lügner, ein Spion und ein Killer – aber was für ein Prachtexemplar.
Alles wirkte auf sie heute Abend seltsam bezaubernd. Tam ergötzte sich daran, wie der flackernde Schein der weißen Kerzen auf dem Tisch funkelnd von den eleganten Wein- und Wassergläsern reflektiert wurde. Dazu dieser sinnliche Glanz der silbernen Kühler mit den Weißwein- und Champagnerflaschen. Sanftes goldenes Kerzenlicht brach sich darin, wurde zurückgeworfen und tauchte alles und jeden in ein weiches Licht. Welcher Genuss, einfach Luft in ihre Lungen zu saugen und zu spüren, wie sich ihr Brustkorb willig ausdehnte, um sie aufzunehmen. Keine Eisenplatten, die auf sie niederdrückten, kein Ringen um Atem, während sie sich aus einem Stahlkäfig kämpfte. Es gab keinen Grund, diese starre, schmerzende lächelnde Maske weiter auf ihrem Gesicht zu dulden. Was für eine Freude, sich einfach glücklich fühlen zu können.
Gott, sie verspürte beinahe Appetit. Tam schaute auf ihren Teller und spießte einen Bissen Schmetterlingsnudeln mit geräuchertem Lachs und Sahnesoße auf ihre Gabel. Es fühlte sich gut an in ihrem Mund. Sie kaute und schluckte, ohne sich Gedanken um Kohlehydrate, gesättigte Fettsäuren und Kalorien zu machen. Wozu auch? Dies war immerhin eine Party. Sie aß ein bisschen mehr und spülte mit mehr Wein nach.
Ihre Wangen glühten, vermutlich der Alkohol. Sie sollte besser auf den Wein verzichten. Aber sie fühlte sich so weich, so relaxt. Sie nahm einen letzten Abschiedsschluck. Dann noch einen.
»Tanzt du mit mir?«, fragte Janos leise.
Die Liste der Gründe, warum sie diesen Mann nicht zu nahe an sich heranlassen sollte, erschien automatisch vor ihrem inneren Auge, aber sie ignorierte sie. Sie genoss dieses ungewohnte, sanfte Glühen zu sehr. Zu wissen, dass es unmöglich von Dauer sein konnte, machte es nur umso kostbarer.
Tam hatte sich nicht mehr so gefühlt, seit … nein, noch nie. Zuvor war sie zu jung und unschuldig gewesen. Eingesperrt hinter dieser blutbespritzten, mit Stacheldraht und Glasscherben bewehrten Zementwand in ihrem Kopf. Die Wand, die Damals von Heute trennte.
Eine innere Anspannung streckte die Fangarme nach ihr aus. Lass das. Geh dort nicht mal für eine Sekunde hin, sonst wirst du dieses Gefühl abtöten und niemals wieder empfinden .
Sie trank noch einen Schluck Wein und schob ihren Stuhl zurück. Nur ein Tanz. Er konnte auf einer öffentlichen Tanzfläche nichts Schlimmes mit ihr anstellen. Sie wollte sich zur Musik bewegen, in den Armen eines großen, gut aussehenden Mannes, an dem sie sich festhalten konnte. Keiner der anderen Kerle im Saal hatte den Mut, sie anzufassen.
Janos hatte keine Angst vor ihr. Das war gefährlich und gleichzeitig unwiderstehlich. Sie schaute ihn an, wägte das Risiko gegen die Versuchung ab.
»Lass mich zuerst nach Rachel sehen.«
Sie schwebte davon, Janos folgte ihr wie ein geschmeidiges Dschungelraubtier. Seine enorme Präsenz bewirkte, dass ihr Körper prickelte und kribbelte, ihm wortlos eine Frage stellte und atemlos auf
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