Stunde der Wahrheit
Beine fühlten sich kraftlos an und hätte James sie nicht gehalten, hätte sie keinen Fuß vor den anderen setzen können. Er dirigierte sie in eine Kabine und setzte sie auf einem Toilettendeckel ab. Dann nahm er mehrere Tücher aus dem Spender, feuchtete sie mit kaltem Wasser an und legte sie ihr auf die Stirn. Ein weiteres Tuch reichte er ihr, um ihren Mund zu säubern. Als sich ihr Atem allmählich beruhigte, schaute sie vorsichtig zu ihm auf und suchte nach einer Regung wie Spott, Mitleid oder sogar Verachtung in seinem Gesicht. Doch seine Miene war verschlossener als ein Stein. Sie seufzte, lehnte ihren Kopf an die Wand und ließ ihren Blick über sein teures Outfit wandern. Dann strich sie sich die verklebten Haarsträhnen von der nassen Stirn und beobachtete, wie er seine Schuhe säuberte.
»Ich hol dir ein Glas Wasser«, sagte er schließlich und verließ die Toilettenräume. Emma betete, dass er niemals wiederkommen möge und alles nur ein Alptraum wäre. Vielleicht hatte sie ja so viel getrunken, dass Rachel sie nach Hause gebracht hatte und sie war gerade dabei ihren Rausch auszuschlafen? Wenn sie Alkohol konsumierte, hatte sie immer die verrücktesten Träume. Sie versuchte aufzustehen und zum Waschbecken zu laufen, um sich den Mund auszuspülen, doch ihre Beine wollten sie einfach nicht tragen. James kam wie versprochen mit einem Glas Wasser wieder, das er auf den Waschbeckenrand stellte. Dann lief er zu ihr und packte sie an der Taille, um ihr aufzuhelfen. Emma ließ es gezwungenermaßen zu und hielt sich schließlich am Waschbecken fest, um sich den Mund zu säubern. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass er sie beobachtete und als sie fertig war, fischte sie einen Kaugummi aus der Handtasche und stopfte ihn sich in den Mund.
»Was machst du hier?«, fragte sie und betrachtete sich im Spiegel. Dabei war sie bemüht, den Blick auf ihr Gesicht zu halten.
»Oder ist das etwa
dein
Club?« Da sie das letzte Mal auch in einem seiner Clubs gelandet war, konnte es ja sein, dass ihm dieser hier auch gehörte. In diesem Fall wäre es zumindest nicht verwunderlich, dass sie ihm über den Weg lief. Doch irgendwie glaubte sie das nicht. Entgegen ihres Vorhabens schaute sie doch zu ihm auf und für einen Moment sah es so aus, als würde er lächeln. Doch sein Mund blieb zu einer harten Linie verzogen.
»Ich bin verabredet«, sagte er nur, was Emma ein bitteres Schnauben entlockte. »Oh Mann, das will ich gar nicht wissen, glaub mir.« Sie legte sich die Handtasche um und lief zur Tür, als sich eine Hand auf ihren Arm legte. Sofort wirbelte sie herum und verpasste ihm eine Ohrfeige, die an den nackten Wänden widerhallte.
»Fass mich nie wieder an«, presste sie hervor und schaute ihn aus tränenverschleierten Augen an. Doch anders als er vielleicht dachte, waren es keine Trauertränen, sondern Tränen der Wut. James ließ sie augenblicklich los und maß sie mit einem undefinierbaren Ausdruck in den Augen. Sie schienen zu funkeln, nur konnte sie nicht sagen weswegen. Er wollte etwas sagen, als Rachel in diesem Moment hereingestürmt kam.
»Emma, geht’s dir gut? Man hat mir gesagt …« Sie verstummte, als sie James erblickte. Ihr Gesichtsausdruck verwandelte sich von Überraschung in Unglauben und schließlich in Wut.
»Du!«, sagte sie mit erhobener Stimme und machte zwei Schritte auf ihn zu. Emma konnte sehen, wie sich sein Körper anspannte, als mache er sich auf den nächsten Schlag bereit und für einen Moment dachte sie wirklich, Rachel würde sich auf ihn stürzen. Doch dann packte sie Emma am Arm und zog sie aus den Räumlichkeiten. Als sie die Bar zwei Minuten später verlassen hatten und in die kühle Nacht traten, sagte Rachel:
»Ich glaub es einfach nicht. Was hat er hier verloren?« Emma zuckte die Schulter.
»Er sagte, er hätte eine Verabredung.« Rachel schaute sie anklagend an.
»Du hast mit ihm gesprochen?«
»Ich habe ihm auf die Füße gekotzt und er hat mich wieder aufgepäppelt«, erklärte sie.
»Du hast was?«, fragte Rachel entgeistert. »Wenn du mich nicht abgefüllt hättest, wäre das gar nicht erst passiert«, verteidigte sie sich.
»Außerdem habe ich ihm eine Ohrfeige verpasst«, fügte sie hinzu, was ihre Freundin etwas besänftigte.
»Ich kann nicht glauben, dass er ausgerechnet hierherkommt. Das kann doch kein Zufall sein«, sagte Rachel, als sie die Straße entlangliefen. »Glaub mir, ich kann’s selbst kaum glauben«, antwortete Emma und schlang ihren Schal enger um
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