Sturm der Barbaren
wissen.«
»Aber du bist die geborene Heilerin.« Er schlüpft ins Zimmer und schließt leise die Tür, dann lässt er sich in den Stuhl mit der geraden Lehne fallen, der am Schreibtisch steht. Er sieht über die halb fertig geschriebene Notiz auf der ledernen Schreibtischunterlage hinweg.
»Was hast du gestern gemacht?«
Lorn zuckt die Schultern, es ist ihm ein wenig peinlich. »Das weiß doch ohnehin schon jeder. Ich war bei einem Mädchen.«
»Sie benutzt einen guten Duft, auch wenn es ein Händlerduft ist. Wer ist sie?« Myryan lächelt ihren Bruder wissend an.
»Eine Händlerin«, antwortet er.
»Sie ist mehr als das«, meint Myryan. »Bist du …«
»Frag nicht … bitte!« Lorn lächelt nun wirklich verlegen und hofft, dass sein Gesichtsausdruck auch genug Verdruss vermittelt.
»Also gut, ich frage nicht …« Ihre bernsteinfarbenen Augen lächeln zusammen mit dem Mund. »Aber nur, weil du mich darum bittest. Jerial wird sowieso noch nachhaken. Bist du deshalb gekommen?«
Lorn übergeht die Frage und will von seiner Schwester wissen: »Du machst dir Sorgen wegen Ciesrt, hab ich Recht? Weil Vater euch vermählen will.«
»Wie aufmerksam.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin nicht wütend auf dich, Lorn. Vater versteht es nicht und das Vermählen gehört zu den Dingen, bei denen Mutters Meinung nicht zählt.«
»Eine Vermählung ist eine politische Angelegenheit.« Lorn zuckt erneut die Schultern. »Wir wissen das. Es kommt nicht darauf an, ob du jemanden magst.«
»Das ist ungerecht.« Myryan schmollt, doch sie weiß ihre Empfindungen zu zügeln. »Du kannst ein Händlermädchen haben, und sie verlangen von dir nur, dass du dafür sorgst, dass sie nicht schwanger wird und du rechtzeitig zum Abendessen daheim bist. Und dann wird noch ein bisschen darüber gelacht, dass du so stark riechst. Kannst du dir vorstellen, was passieren würde, wenn ich mir mit einem netten Händler ein Stelldichein geben würde – oder einem ausländischen Kaufmann?«
»Einen ausländischen Kaufmann würdest du nicht mögen. Sie riechen, die meisten zumindest.«
»Deshalb …« Myryan zieht die Augenbrauen hoch.
Lorn lacht frei heraus. »Nein, das glaube ich nicht.«
»Du hast sie vor einem Schicksal gerettet, das ärger ist als der Tod?«
»Ein- oder zweimal«, gibt Lorn zu.
»Wie kannst du das behaupten und doch die Wahrheit sagen?« Myryan schüttelt den Kopf und versucht, nicht zu lachen. »Du bist unmöglich.«
»Was ist mit Ciesrt?«, fragt Lorn noch einmal.
»Er ist langweilig wie eine Steinsäule und noch nicht einmal nett. Manche Menschen halten ihn für nett, weil er so ruhig ist. Aber er ist so ruhig, weil er gar nicht richtig lebt. Er spricht nur davon, endlich ein Magier zu werden.«
Lorn nickt.
»Vater will das nicht einsehen.« Sie schüttelt den Kopf und sieht zu Boden.
»Ich will nichts versprechen … aber vielleicht kann ich etwas tun. Mit Vater oder Vernt sprechen.«
»Sie werden nicht auf dich hören. Ciesrt wird bald ein anerkannter Magier sein, und wer könnte einen besseren Gemahl abgeben als ein Magier?« In ihrer sonst so vollen und warmen Stimme schwingt eine Bitterkeit mit, die Lorn bislang nur selten gehört hat und die ihm überhaupt nicht gefällt.
»Erzähl mir etwas vom Heilen«, schlägt Lorn vor.
»Jerial weiß mehr darüber.«
»Mir ist nicht am reinen Wissen gelegen. Ich will etwas über Erkennen und Fühlen erfahren«, erwidert Lorn. »Nur aus Schriftrollen und Büchern lernen reicht nicht.« Seine Lippen kräuseln sich zu einem selbstironischen Grinsen.
»Es wird schwer für dich werden«, meint Myryan.
»Wenn du es sagst.«
»Ich meine es wirklich. Durch deine Hände ist schon Chaos geflossen.«
Lorn zieht die Augenbrauen hoch.
»Sieh mich nicht an, als wäre ich ein dummes Ding. Dich umgibt ein Weißer Schimmer. Vater glüht praktisch die ganze Zeit. Genauso wie Vernt. Aber bei dir ist es nicht so schlimm.«
Lorn nickt. »Du und Jerial, ihr seid von einem schwärzlichen Schleier umgeben, aber bei dir wirkt er stärker.«
»Kannst du das sehen?«
»Eigentlich eher fühlen«, gesteht Lorn.
»Gut. Vernt kann das nicht, musst du wissen. Er glaubt, beim Heilen handelt es sich nur um Einbildung, dabei ist er nur ordnungsblind. Vater kann es auch nicht fühlen, aber er weiß, dass es wirkt.«
»Vater ist ein Pragmatiker.« Nach einer Pause fügt er hinzu: »Meistens jedenfalls.«
»Und es gibt zwei Arten von Chaos«, fährt Myryan fort. »Da ist einmal die
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