Sturm der Barbaren
vertäut.
Die rothaarige Frau zittert in der kühlen Brise. »Lorn?« Ryalth sieht ihren Freund an. »Ist dir nicht kalt?«
»Mir? Nein.«
»Aber mir.« Sie rückt näher zu ihm, sodass ihre Körper sich seitlich berühren. »Du bist warm wie ein Lagerfeuer oder die Sonne.«
»Ich möchte lieber nicht über Feuer sprechen.«
»Ich habe ein Geschenk für dich.« Ryalths Stimme klingt sehr weich.
»Du musst mir nichts schenken«, beharrt Lorn und dreht sich zu ihr. »Die Münzen und die Geldkassette sind für dich. Das habe ich dir schon gesagt. Gib nichts davon für mich aus.«
»So ein Geschenk ist es nicht. Es ist etwas, das ich schon sehr lange besitze.«
Lorn zieht die Augenbrauen hoch. »Das sollst du doch nicht tun. Das weißt du.«
»Ich weiß, ich muss nicht. Aber ich will.« Ihr Lächeln ist warm, auch wenn sie dabei zittert.
Lorn lächelt und legt den Arm um ihre Schulter. »Dir ist wirklich kalt.«
»So ist es schon besser. Du bist so warm.« Sie reckt den Kopf und sieht ihm ins Gesicht. »Hast du dich je gefragt, wo die Erstgeborenen herkamen? Wie sie waren?«
Lorn runzelt die Stirn und zuckt die Achseln. »Sie kamen und schufen mithilfe der Chaos-Türme Cyad und Cyador. Sie sperrten den Verwunschenen Wald ein und öffneten die Länder des Ostens für uns. Sie bauten die Feuerwagen und …«
»Das ist Geschichte«, unterbricht ihn Ryalth freundlich. »Wir wissen viel darüber, was sie getan haben. Aber all die Schriftrollen und Bücher berichten nur davon, dass sie von den Rationalen Sternen kamen und was sie bauten, als sie hier eingetroffen waren. Willst du nicht mehr über sie erfahren? Was für Menschen sie waren?«
»Sie waren Menschen wie wir.« Lorn lacht leise und berührt ihre Wange mit der rechten Hand, dann beugt er sich zu ihr hinunter und küsst sie auf die Wange.
Ryalth entwindet sich seinem sanftem Griff. »Waren sie das wirklich?«
Lorn legt die Stirn in Falten. »Erst sprichst du von einem Geschenk und jetzt …«
»Es ist immer das Gleiche.« Sie hält ihm ein schimmerndes Rechteck hin. »Hier ist es.«
»Was ist das?«
»Es ist ein sehr altes Buch. Es gehörte der Mutter meiner Mutter. Keiner wusste davon. Vater sagte, keiner hätte zu seiner Zeit etwas Derartiges erschaffen können und heute, so nehme ich an, auch nicht. Er sagte mir, ich soll es behalten. Es niemals verkaufen, ganz gleich was man mir auch dafür bietet.«
Lorn blickt in ihre tiefblauen Augen. »Dann schenk es mir nicht. Es gehört dir.«
»Du wirst es für mich aufbewahren«, erwidert Ryalth.
»So etwas kann ich nicht annehmen …«
»Schlag es dort auf, wo das lederne Lesezeichen steckt. Ich möchte, dass du mir vorliest.« Ryalth drückt ihm das dünne Bändchen in die Hand.
Lorn nimmt das Buch, der Umschlag ist so unversehrt und glatt, als wäre er gerade in diesem Augenblick in seinen Händen erschaffen worden. Er dreht es um und sieht ein Licht aufflackern auf dem silbergrünen Stoffeinband, als die Wintersonne ihre Strahlen darauf schickt.
»Öffne es«, drängt Ryalth.
Lorn schlägt das Buch auf, seine Finger finden keinen Halt auf den Seiten, die sich mehr wie Schimmertuch als wie Papier oder Pergament anfühlen; die Oberfläche ist so glatt, dass Schimmertuch im Vergleich dazu beinahe rau erscheint. Die Buchstaben sind klar geschrieben, aber etwas schräger und eckiger, als Lorn es gewohnt ist.
»Das da.« Die rothaarige Frau zeigt auf die Seite.
Lorns Augen lesen die Überschrift. Er liest sie laut … und fährt fort.
SOLL ICH MICH DER RATIONALEN STERNE
ERINNERN?
Dort besaß ich einen Turm im Himmel,
die Räume klar und weit,
Musik erfüllte die Mauern
und die Hallen waren getaucht in Licht.
Die Tage waren lang,
die Nächte Musik.
Soll ich mich der Rationalen Sterne erinnern?
Oder an der Ruine auf diesem Hügel festhalten,
wo neue Mauern reglos walten,
vortrefflicher Granit in die Dämmerung ragt
und Sonnendächer die Straßen schmücken.
Damals war Gold schlicht Gold,
oft wurden lange Geschichten erzählt.
Weiße Blumen schmückten den dunkelsten Raum,
Blumen, die ihre Blüten nie verloren.
Soll ich mich der Rationalen Sterne erinnern?
Und von neuem errichten
alte Chaos-Türme im dunkelsten Wald?
Zurücklassen ein Nichts, wo einst der Wald,
verwandeln das Dunkle des Tages in sonnigen Stolz,
um durch zerbrechliche Fenster den Regenbogen zu schauen,
blühende Gänge und Höfe
und weiße Blumen im dunkelsten Raum?
Soll ich mich der
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