Sturm der Herzen
irgendeinem ihr unbekannten Grund zum Sterben zurückgelassen worden war.
Trotz ihrer Angst und ihrer Befürchtungen blieb sie nicht müßig, nachdem sie sich überzeugt hatte, dass sie wirklich und wahrhaftig allein war, versuchte sie sich von ihren Fesseln zu befreien. Sie verschwendete Zeit und Kraft damit, gegen die Stricke zu kämpfen, ehe sie einsehen musste, dass sie sich nicht lockern würden. Ihre Entführer hatten feste Knoten gebunden. Doch so leicht gab sie nicht auf, sondern probierte etwas anderes. Sie rutschte vom Stuhl und versuchte die Augenbinde und den Knebel durch Reiben des Kopfes loszuwerden, aber auch das war vergebens. Sie drängte Tränen der Erbitterung und Verärgerung zurück, schließlich lag sie keuchend auf dem Boden und überlegte, was sie noch tun konnte. Die Hände waren ihr hinter dem Rücken mit einem Strick zusammengebunden, und von da lief ein weiterer Strick zu den Fesseln um ihre Knöchel, sodass sie weder gehen konnte, noch die Hände vor sich ziehen, um sich dann der Augenbinde oder des Knebels zu entledigen. Einen Moment drohte die Verzweiflung sie zu überwältigen.
Erschöpft von ihren Anstrengungen lag sie da und drängte die düsteren Gedanken und Gefühle zurück, die in ihr aufwallten. Sie konnte nicht entkommen, wenigstens nicht im Moment, nachdem sie sich damit abgefunden hatte, suchte sie nach einem Grund für ihre Entführung. Wenn sie begriff, weshalb man sie hierher verschleppt hatte, hatte sie vielleicht etwas in der Hand, mit dem sie sich wehren konnte, falls ihre Entführer zurückkehrten.
Entführungen, Straßenräuber und Wegelagerer waren in dieser Gegend nahezu unbekannt, aber dennoch hatten zwei Männer sie am helllichten Tag entführt, mitten auf Lord Mannings Besitz. Bei keinem der beiden hatte es irgendeinen Hinweis gegeben, um wen es sich handelte, obwohl sie wegen seiner Ausdrucksweise gefolgert hatte, dass einer von ihnen ein Gentleman war, wenigstens der Abstammung nach. Der andere war eindeutig niederer Herkunft, aber darüber hinaus konnte sie keinen der beiden beschreiben.
Aber warum , überlegte sie, haben sie mich entführt? Von solchen Überfällen las man sonst eher in Romanen von Minerva Press, solche Sachen stießen Frauen wie ihr nicht wirklich zu. Sie war eine achtbare Frau, ein Mitglied des Landadels, ihr Leben war wenig aufregend und vorhersehbar, bis Whitley aufgetaucht war. Hinter der Binde wurden ihre Augen schmal. Dieser Bastard!
Ungeduldig kämpfte sie sich in eine sitzende Stellung und lehnte sich halb gegen die Wand der Hütte. Das war zwar nicht sonderlich bequem, aber so fühlte sie sich weniger hilflos, als wenn sie einfach verschnürt wie ein Truthahn auf dem Boden lag.
Sie zog die Brauen zusammen und kam zu dem Schluss, dass Whitley hinter ihrer Entführung stecken musste. Konnte es irgendwie mit den Ereignissen in Indien zusammenhängen? Gab es eine Verbindung zu Edmund? Panik hob drohend ihr Haupt. Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen, drängte die Furcht zurück. Nein. Mit Indien oder Edmund konnte es nichts zu tun haben. Dafür hatte Marcus gesorgt. Alle Beweise waren zerstört worden. Und Whitley, rief sie sich ins Gedächtnis, war spurlos verschwunden, obwohl sie ihre Entführer nicht identifizieren konnte, so wusste sie doch sicher, dass keiner von den beiden Whitley war. Sie biss sich auf die Lippe. Er gehörte vielleicht nicht zu ihren Entführern, aber irgendwie hing er sicher mit drin, davon war sie überzeugt.
Sie verschwendete mehrere Minuten damit, sich wilden Spekulationen hinzugeben, ehe sie zu dem Punkt zurückkehrte, von dem sie überzeugt war: Alles ging auf Whitley zurück. Doch wenn es nicht mit Indien oder Edmund zusammenhing, womit dann? Es musste etwas sein, das hier in England geschehen war. Etwas, das noch nicht lange her war.
Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie das Problem von allen Seiten. Whitley war aus dem Militär ausgeschieden und nun im Ruhestand. Das war nicht lange her, aber sie konnte keine Verbindung von seiner Pensionierung zu ihrer jetzigen Lage herstellen. Dann fiel ihr etwas ein, und sie setzte sich aufrechter hin. Whitley war nicht der einzige Neuankömmling in der Gegend, der erst kürzlich seine Militärkarriere beendet hatte. Jack Landrey, Lord Thorne, Marcus’ Cousin, war auch erst vor Kurzem aus dem Militär ausgeschieden … Ihr stockte der Atem. Dann war da noch das geheimnisvolle Treffen von Marcus, Jack und Garrett neulich Nacht - ein Treffen, dessen Zweck
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