Sturm der Leidenschaft
erhielt, der gerade zu Besuch weilt.«
Dr. Whitticomb beschäftigte sich angelegentlich mit seinem Brandyglas, während er sich um eine ernste Miene bemühte. »Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr Sie das überrascht hat.«
»Der Zeitpunkt, an dem mich noch etwas überraschen könnte, was mit Whitney zusammenhängt, gehört längst der Vergangenheit an«, erklärte Clayton, aber sein verärgerter Tonfall widersprach seinen abgeklärten Worten.
Nach kurzem Überlegen sagte Dr. Whitticomb: »Ich bin ein aufmerksamer Beobachter und nicht ganz unerfahren in weiblichen Verhaltensweisen. Vielleicht gestatten Sie mir, einem alten Freund der Familie, einen kleinen Rat?« Als der Herzog schwieg, fuhr er fort: »Ich habe den Eindruck, daß sich Miss Stone etwas wünscht, das Sie ihr nicht zu geben bereit sind. Was könnte das sein?«
»Ihr einziger Wunsch«, entgegnete Clayton gereizt, »besteht darin, daß der Verlobungsvertrag aufgelöst wird.«
Dr. Whitticomb lachte erschreckt auf. »Mein Gott! Kein Wunder, daß Sie mich fast mit den Augen vernichtet hat, als ich ihr ganz vorsichtig riet, sich Ihnen gegenüber zugänglicher zu verhalten.« Widersprüchliche Gefühle durchzuckten ihn: Erstaunen darüber, daß diese junge Lady außerordentlich starken Widerwillen gegen den Heiratsantrag des begehrtesten Junggesellen Englands empfand, Bewunderung für Claytons Toleranz ihrem Widerstand gegenüber sowie Überraschung darüber, daß diese sensationellste Verlobung des Jahrzehnts wie ein Geheimnis gehütet wurde. »Welche Einwände hat die junge Lady denn gegen Ihren Antrag?« fragte er schließlich.
Clayton lehnte den Kopf an die Sessellehne und schloß seufzend die Augen. »Sie bemängelt, daß ich sie zuvor nicht gefragt habe.«
»Daraus kann sie Ihnen nur schwerlich einen Vorwurf machen. Allerdings kannten Sie doch sicherlich ihr Beharren auf Eigenständigkeit. Warum haben Sie sie dann nicht tatsächlich vorher gefragt?«
Clayton öffnete die Augen wieder. »Da sie seinerzeit nicht einmal meinen Namen kannte, hielt ich es für sehr heikel, mit ihr über eine Heirat zu sprechen.«
»Sie kannte Ihren ... Sie wollen mir doch nicht etwa sagen, daß Sie - ein Mann, dem sich die Hälfte aller Frauen in Europa an den Hals werfen - um eine junge Frau angehalten haben, die Sie nicht einmal kannten?«
»Sie kannte mich nicht. Ich kannte sie.«
»Und Sie haben ganz selbstverständlich angenommen, sie würde zustimmen, sobald sie nur Ihren Titel hört und von Ihrem Reichtum erfährt«, mutmaßte Dr. Whitticomb mit vor Vergnügen funkelnden Augen. Der finstere Blick des Herzogs schüchterte ihn nur vorübergehend ein. »Wer ist Paul Sevarin?« fragte er nach kurzem Schweigen.
Clayton blickte noch finsterer. »Warum fragen Sie?«
»Als ich heute von Miss Stone zurückkam, stattete ich der Apotheke des Ortes einen kurzen Besuch ab. Der Apotheker ist ein geschwätziger Bursche, der mich sofort ausfragte. Als er herausfand, wer meine Patientin ist, sagte er Dinge, die ich sofort als absolut unsinnig abtat.«
»Zum Beispiel?«
»Beispielsweise, daß Sevarin sich ernsthaft um Miss Stone bemüht, und daß der gesamte Ort nur noch auf die Bekanntgabe der Verlobung wartet.«
»Offen gestanden«, näselte Clayton, »gebe ich darauf keinen verdammten Pfifferling.«
»Auf den Klatsch?« hakte Hugh Whitticomb beharrlich nach. »Oder auf Sevarin? Oder auf das Mädchen?« Als Clayton nichts antwortete, beugte er sich vor und erkundigte sich sehr direkt: »Lieben Sie diese junge Frau oder lieben Sie sie nicht?«
»Ich werde sie heiraten«, erwiderte Clayton kühl. »Mehr ist dazu nicht zu sagen.« Damit stand er auf, wünschte seinem Gast eine gute Nacht und verließ den Raum.
Verblüfft blieb Hugh Whitticomb vor dem Kamin sitzen. Nach einigen Minuten begann der Arzt zu schmunzeln, dann lachte er laut auf. »Gott sei ihm gnädig«, gluckste er leise vor sich hin. »Er weiß nicht, daß er sie liebt. Und selbst wenn er es wüßte, würde er es nie zugeben.«
Kapitel zehn
Ein kühler Luftzug mit dem Geruch nach Kartoffelfeuern und brennendem Laub wehte in Whitneys Zimmer, und sie schnupperte begierig, als sie aus dem Bad trat. In ihren Morgenrock gehüllt, lief sie zum geöffneten Fenster, hockte sich aufs Fensterbrett und blickte in die bunte Landschaft hinaus. Der Herbst, die leuchtendste aller Jahreszeiten, begrüßte sie mit einem strahlenden Morgen, und sie verspürte wieder das Kribbeln überschäumender Lebensfreude,
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