Sturm der Seelen: Roman
dem Rücken und brüllte vor Schmerz. Und dann erblickte sie einen Riesen in einer roten Rüstung, ein Monster, wie sie es sich in ihren schlimmsten Albträumen nicht hätte vorstellen können, das durch den Schnee stampfte und dabei die Kadaver von Vögeln zermalmte, deren Gefieder so hell war, dass es sich kaum von dem Schnee darunter abhob. An mehreren Stellen war die Rüstung des blutroten Ungeheuers zerfetzt, darunter sah sie sein verbranntes Fleisch. Hinter ihm sammelte sich der Schwarm, zurückgehalten nur von den weit ausgebreiteten Armen des Monsters. Es roch nach Tod. Es war nicht mehr nur der Geruch von verbranntem Fleisch, sondern von rohem, soeben noch lebendigem Fleisch, in Stücke gerissen, blutend, und von hingeschlachteten Körpern, aus denen die Fäulnisgase nun ungehindert entwichen.
Ein Blitz zuckte über den Himmel, und die Schneeflocken erstarrten mitten im Fallen zu einer gespenstischen Momentaufnahme. Sie schrie.
»Jill!« Missy packte Jill an den Schultern und schüttelte sie, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von dem ihren entfernt. »Ist alles in Ordnung? Was passiert mit dir?!«
Flammen flackerten rot, dann verblasste Jills Vision, und sie war wieder in der von dem Kohlefeuer spärlich erleuchteten Höhle, von deren Wänden immer noch das Echo ihrer Schreie hallte. Jill entschlüpfte Missys Griff und sank erschöpft auf die Knie. Die Vision war so plötzlich und mit solcher Gewalt über sie hereingebrochen, dass sie ihr beinahe die letzten Kräfte geraubt hatte. Keuchend schaute sie hinauf zu Missy, die schwankend vor ihr stand, bis Jills Gleichgewichtssinn zurückkehrte und der Boden unter ihren Füßen endlich wieder stillhielt. Sie holte tief Luft. Sie wollte Missy warnen, nicht nach draußen zu gehen, um den anderen beizustehen, doch die Worte wollten ihr nicht über die Lippen kommen. Wenn es etwas gab, das sie aus diesen kurzen Vorausblicken auf die Zukunft gelernt hatte, dann war das die schlichte Erkenntnis, dass das, was sie sah, ohnehin geschehen würde. Anstatt blindlings davonzurennen, musste sie versuchen, irgendeinen Nutzen daraus zu ziehen. In einer gefährlichen Situation nicht den Mut zu verlieren war schwer genug, aber seinem eigenen Schicksal entschlossen gegenüberzutreten, das war noch weitaus schwerer. Sie wusste jetzt, was am anderen Ende dieses Tunnels auf sie wartete. Und wenn sie dem aufrecht begegnen wollten, durfte sie Missy nichts verraten, denn damit würde sie nur riskieren, dass sie sich mutlos in ihr Schicksal ergab, anstatt dagegen anzukämpfen. Also würde Jill genügend Mut für sie beide zusammen aufbringen müssen.
»Mein Gott! Glaubst du, das war ein Schlaganfall?«, rief Missy Evelyn zu, die nun herbeigeeilt kam.
»Schon in Ordnung. Mir geht’s gut«, sagte Jill. Ihre Stimme zitterte, auch wenn sie noch so stark dagegen ankämpfte.
»Was hast du gesehen?«, fragte Evelyn.
Jill stand auf und spürte, wie eine kalte Hand sie an der Schulter berührte. Es war Jake, der sie mit tränenverschmierten Augen anlächelte und ihr mit einem sanften Druck seiner Hand Mut zusprach.
Durch diese Geste bestärkt, hob sie ihren Kopf und blickte zuerst Missy in die Augen, dann Evelyn.
»Ich habe Missy und mich draußen im Sturm gesehen«, sagte sie. »Und ich habe eine Armee gesehen, die kurz vor ihrer Niederlage steht.«
Missy starrte sie an, als suche sie in ihren Augen nach der Wahrheit, die sie verbarg.
»Auf was warten wir dann noch?«, fragte sie schließlich und schaute hinüber zu dem Tunnel, aus dessen Eingang jetzt eine eisige Brise wehte, dann lief sie hinein in seinen dunklen Schlund. Jill ballte ihre Hände zu Fäusten, sie spürte, wie sich ihre Fingernägel in ihre Handflächen gruben, dann folgte sie dem Geräusch von Missys Schritten.
»Warte!«, rief Evelyn hinter ihr her. »Was soll ich inzwischen tun?«
»Kümmer dich um Jake und Ray. Sie brauchen dich dringender als wir.«
Dann beschleunigte sie ihr Tempo, um Missy einzuholen. Jill spürte, wie es mit jedem Schritt kälter wurde, bis sie endlich einen Lichtschein sah, in dem sich Missys Silhouette abzeichnete. Sie hörte das Zischen in der Höhle, es war weit lauter als das Hämmern ihres Herzens und das Trommeln ihres Pulses in den Schläfen. Beinahe wäre sie wieder umgekehrt. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst gehabt.
Missy betrat als Erste die Höhle. Noch halb im Eingang des Tunnels stand sie da, sodass Jill sich regelrecht an ihr vorbeiquetschen musste. Von
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