Sturm der Seelen: Roman
seiner Schwärze sogar noch von dem von Rauch und Wolken fast vollkommen verdunkelten Nachthimmel ab, dessen Finsternis das Mondlicht kaum durchdringen konnte. Er erreichte den östlichen Rand des Kraters und schlängelte sich durch einen Irrgarten aus Grundmauern, die der Nuklearexplosion widerstanden hatten, tauchte unter halb eingestürzten Brücken hindurch und jagte durch Torbögen aus aneinanderlehnenden, umgestürzten Wolkenkratzern. Ein Geräusch wie aus einer leckgeschlagenen Gasleitung drang an seine Ohren und wurde Sekunde für Sekunde lauter, bis ihm schier das Trommelfell zu platzen drohte.
Je näher er an den Turm kam, desto dunkler wurde der Boden unter ihm, bis er schließlich einen Ring aus kleinen, aschespuckenden Feuern erreichte, der ihn umschloss. Erst jetzt, im Schein der flackernden Flammen, merkte Phoenix, dass das Schwarze unter ihm keine verkohlte Erde war – es waren unzählige schwarze Leiber, Schulter an Schulter zusammengedrängt. Es mussten Tausende sein, die dort unter ihm mit ihren kalten, bernsteinfarbenen Augen den Turm anstarrten.
Der Vogel zog hoch und landete auf einem verbogenen Stahlträger, der aus der Ruine eines der Nachbargebäude herausragte. Rechts von ihm erstreckten sich die schwarzen Heerscharen, links ragte der Turm schief in den Himmel. Das ohrenbetäubende Zischen verstummte wie mit einem Paukenschlag und hinterließ eine Stille, die sich auf sie herabsenkte wie Cellophan.
Klopp.
Klopp.
Eine Gestalt erschien auf der Höhe des dritten Stockwerks, ihr Körper hatte die Farbe von getrocknetem Blut, eingehüllt in eine braune Kutte. Sie saß auf einem riesenhaften Pferd, gehüllt in Fetzen aus einem ähnlichen Material wie die Kutte seines Reiters; unten ragten Beine aus Knochen heraus. Das Pferd stellte sich auf die Hinterläufe und blies Feuer aus seinen Nüstern. Der Reiter hob eine Hand, zur Faust geballt, und ein frenetisches Fauchen, das so laut war, dass der Stahlträger unter Phoenix erzitterte, zerriss die Luft. Erst jetzt schienen die Kreaturen dort unten richtig zum Leben zu erwachen, eine Kakophonie aus hauenden Klauen, schnappenden Kiefern und zitternden Kehlsäcken.
Von tiefstem Entsetzen gepackt, wandte Phoenix die Augen ab und ließ seinen Blick hinauf Richtung Himmel wandern, bis er die Spitze des Wolkenkratzers sah, von wo ihn zwei golden glühende Augen unter einer Kapuze anstarrten, die den Rest des Gesichts in Schatten tauchte.
Phoenix schrie auf. Dann stand er wieder am Ufer des Sees, diesen riesigen Vogel auf seinem Unterarm, der auf der Suche nach Halt mit seinen Krallen immer tiefer in sein Fleisch schnitt. Er riss seine Augen von dem Tier los, und der mutierte Falke erhob sich in die Luft, schlug ein paarmal mit seinen langen Schwingen und flog hinauf zu einem kleinen Vorsprung in der Felswand hinter Phoenix, wo er sich niederließ und, fast unsichtbar vor dem blässlich grauen Fels, auf den See hinausstarrte.
»Sie kommen«, flüsterte Phoenix und ließ seinen blutverschmierten Arm sinken, auf dem das warme Lebenselixier seine schmalen, roten Bahnen zog und über Handgelenk und Finger schließlich auf den Boden tropfte.
Wie ein Blitz rannte er zurück zu den anderen, und während er lief, schlossen sich seine Wunden wie Lippen, die ihr Geheimnis nicht preisgeben wollen.
»Sie kommen!«, schrie er und sah, wie verwirrte Gesichter sich ihm zuwandten. »Uns bleibt keine Zeit mehr! Sie kommen!«
XIII
MORMON TEARS
Adam schaute tatsächlich in sein eigenes Gesicht, das ihn da von der Wand durch jahrhundertedicken Staub hindurch anstarrte. Es war nicht gerade ein Porträt, wie es ein Renaissance-Maler angefertigt hätte, aber die Ähnlichkeit war überdeutlich. Die Kreide war im Lauf der Zeit immer mehr verblasst, und Adam fürchtete, wenn er den Staub abwischte, würde er damit auch das feine, farbige Pulver darunter entfernen, aber er konnte auch so genug erkennen. Die Augen passten. So wie Haare und Haut. Alles stimmte, bis hin zu seinem Tarnanzug. In den Händen hielt er zwei Speere, vor seinen abgewinkelten Knien überkreuzt überragten sie seinen Kopf und zeigten schräg zur Decke. Neben ihm war eine Frau mit einem Korb zu erkennen, darin etwas, das aussah wie Salat. Ihr Gesicht kam ihm bekannt vor, aber nicht so vertraut, dass er sie sofort erkannt hätte.
Er hob seine Fackel etwas höher und sah sich den Rest der Mauer an. Sie war lang, reichte zu beiden Seiten bis ans Ende des Lichtscheins seines brennenden Astes.
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