Sturm der Seelen: Roman
denn dann befänden sie sich bereits auf der großen, ungehindert einsehbaren Fläche direkt vor dem Strand der anderen und hätten das Überraschungsmoment unweigerlich verspielt. Wenn sie sich der Insel jedoch genau von Osten näherten, könnten sie sich ungestört auf die bevorstehende Konfrontation vorbereiten, und Richard wusste, dass es eine solche geben würde: zu seinen Bedingungen, in einer Situation, in der er alle Variablen unter Kontrolle hatte.
Die Schneeflocken waren mittlerweile so dick und der Wind so stark, dass die Sichtweite praktisch null betrug. Der Horizont vor ihnen war immer nur für Sekundenbruchteile zu sehen, wenn der Sturm kurz Atem holte und der peitschende Wind die Richtung wechselte. Ohne Sonne war es nahezu unmöglich, die Zeit einzuschätzen, aber Richard dachte, dass es etwa gegen Mittag sein musste. Bei Einbruch der Nacht würden sie den Jungen bereits haben und nachhause zurückkehren, um sich im Morgengrauen des nächsten Tages einen heldenhaften Empfang bereiten zu lassen. Wenn Garrett sein Versprechen gehalten hatte, wäre das Hotel bis dahin eine regelrechte Festung mit Strom, Heizung und bewaffneten Wachposten, die rund um die Uhr patrouillierten. Sie wären bereit, es mit einer ganzen Armee aufzunehmen, und mit Jake an seiner Seite könnte Richard vorhersagen, wann es zu dieser letzten Schlacht kommen würde. Alles fügte sich ineinander, genau so, wie er es sich ausgemalt hatte. Seine Anhänger würden ihn zum König krönen und als ihren Propheten verehren, ihm als ihrem Führer blind folgen und ihn als ihren Herrscher fürchten. Er wäre endlich am Ziel all seiner Träume.
Er wäre ein Gott. Einen Moment lang glaubte er, in dem dichten Schneetreiben einen weiteren dieser großen, weißen Falken gesehen zu haben, aber als er den Kopf in die entsprechende Richtung drehte, war er wieder verschwunden. Richard überlegte kurz, ob er umdrehen und nachsehen sollte, ob der Vogel irgendwelche Spuren im Schnee hinterlassen hatte, aber er brannte viel zu sehr darauf, endlich die Insel zu erreichen. Dennoch wünschte sich ein Teil von ihm nichts sehnlicher, als noch einen dieser Vögel zu töten. Die Worte, die das Blut des ersten im Schnee hinterlassen hatte, mussten eine Halluzination gewesen sein, ein rein zufälliges Muster, das sein Gehirn in einen ihm verständlichen Code uminterpretiert hatte. Trotzdem, die Buchstaben waren absolut klar gewesen, wie von einer unsichtbaren Hand geschrieben, und er hatte sie reflexartig mit seinem Stiefel verwischt, damit keiner der anderen sie zu Gesicht bekommen konnte. Wenn er doch nur noch eines von diesen Tieren töten könnte, um seine Theorie zu überprüfen; der Gedanke, dass jemand oder etwas ihm mit dem Blut eines getöteten Tieres eine Botschaft übermittelt haben sollte, noch dazu eine, die in so krassem Gegensatz zu seinem bestens ausgearbeiteten Plan stand, war schlichtweg absurd. Umkehren? Kam nicht in Frage. Nachdem er sein ganzes Leben lang auf dieses eine Ziel hingearbeitet hatte, das jetzt zum Greifen nahe war, würde er eher sterben, als diese Gelegenheit verstreichen zu lassen.
Mit einem Heulen drehte der Wind erneut und traf ihn mit solcher Wucht, dass er spürte, wie sein Motorschlitten nach links abgetrieben wurde. Richard packte den Lenker umso fester, zwang das Schneemobil zurück in die Spur und spähte angestrengt durch die Frontscheibe …
Und da war sie. Das musste sie sein.
Zwar schwamm das Seeungeheuer in die entgegengesetzte Richtung, aber die Silhouette, die sich da vor dem düsteren Himmel abhob, sah genau so aus wie die, die er in Erinnerung hatte. Richard drehte am Gashahn und überholte Bruce. Als er vor ihm war, gab er ihm ein Zeichen, das Tempo zu verlangsamen. Schon steuerten auch die anderen näher heran, aber nur bis auf Rufweite, um nicht zu viel Gewicht auf einer zu kleinen Fläche zu konzentrieren.
»Wir müssen da hin«, sagte Richard und deutete auf die Felsinsel, die schon im nächsten Augenblick wieder im Schneesturm verschwand.
»Wie lautet der Plan?«, fragte Bruce.
»Wir nähern uns ganz langsam und stellen unsere Motorschlitten am Ostufer der Insel ab.«
»Ihr habt’s gehört«, rief Bruce den anderen zu und fuhr wieder voran, diesmal aber mit weit niedrigerer Geschwindigkeit.
Sie machten immer noch viel zu viel Lärm, dachte Richard, aber dagegen ließ sich leider nichts unternehmen, außer sie ließen ihr einziges Transportmittel zurück, was auf keinen Fall in Frage kam. Wenn es
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