Sturm der Seelen: Roman
an der Zeit war, wieder aufzubrechen, würden sie es ziemlich eilig haben. Richard grinste. Dieser kleine Albino-Freak hatte nicht den geringsten Schimmer, was ihm bevorstand. Außer er hatte tatsächlich hellseherische Fähigkeiten, wie die anderen behaupteten … Aber dann wäre er jetzt mit Sicherheit tausend Meilen weit weg.
Die dunklen Umrisse der Insel nahmen immer mehr Gestalt an, bis sie schließlich direkt vor ihnen aus den Schneemassen ragte. Die Felsen waren im Lauf der Jahrtausende von Wind und Wetter erodiert und glattpoliert, was die Insel aussehen ließ wie eine Ansammlung von Pilzhüten. Fast eine Meile lang und mit mehreren Felsschichten übereinander, die sich etwa dreißig Meter hoch auftürmten, war sie weit größer, als sie aus der Entfernung gewirkt hatte, und übertraf selbst Richards kühnste Vorstellungen. Von weitem hatte sie ausgesehen, als wäre sie nur ein einziger großer Brocken, doch jetzt sah er, dass sich hier in Wahrheit Felsen unterschiedlichster Größe in einer Art Spiralmuster aneinanderschmiegten.
Bruce hatte jetzt den Rand der Felsen erreicht. Richard stellte den Motor ab und sprang von der Sitzbank auf eine langgestreckte, sanft ansteigende Felszunge, die vom See weg um einen niedrigen Felsvorsprung herum außer Sichtweite führte. Sie überließen Richard die Führung, der vorausging und sie einen geschlängelten Pfad entlang bis hinauf zum höchsten Punkt führte, wo sie bäuchlings bis an den Rand einer Kante robbten, von wo sie hinunter auf die andere Seite sehen konnten.
Der Strand mit der Höhle war wegen des Sturms kaum zu erkennen, aber diese senkrecht aufragende Felswand, die da in einiger Entfernung immer wieder kurz aus dem Schneechaos auftauchte, musste es sein. Richard konnte dort drüben zwar niemanden sehen, aber auf die Entfernung wäre das wohl auch ohne den Blizzard kaum möglich gewesen.
»Da wären wir also«, sagte einer seiner Begleiter. »Und was jetzt?«
Richard schaute an ihm vorbei und inspizierte das abgestorbene Gestrüpp, das hinter dem Mann aus einer der Felsspalten ragte, sowie die Nester der Vögel, die hier winters wie sommers nisteten.
»Wir lassen sie wissen, dass wir hier sind«, erwiderte Richard.
»Ich dachte, wir wollten das Überraschungsmoment ausnützen.«
»Das tun wir.«
»Verstehe ich nicht. Die haben doch keine Ahnung, dass wir hier sind, warum sollten wir uns diesen Vorteil nicht zunutze machen? Wir könnten doch einfach rübergehen und ihnen das Kind unter der Nase wegschnappen.«
»Damit wären wir keinen Deut besser als sie. Uns einschleichen und ein Kind entführen. Das ist es, was nicht in Ordnung war mit unserer Welt: Armeen, die nicht erklärte Kriege führten; Terroristen, die Flugzeuge voller unschuldiger Zivilisten kidnappten und sie in Wolkenkratzer steuerten, in Kellern Bomben bastelten und sie auf Marktplätzen hochgehen ließen oder ihre Kinder damit im Rucksack in die Schule schickten. Und wir haben mit all dem angefangen. Die britische Armee rückte noch in geordneten Schlachtreihen vor, und wir haben ihnen aus dem Hinterhalt aufgelauert. Wir waren es, die den Guerillakrieg erfanden und uns dann entrüsteten, wenn andere unsere eigene, feige Taktik gegen uns anwendeten. Vietnam und Irak, das war nichts anderes als die direkte Konsequenz unserer eigenen Handlungen. Doch wir haben jetzt die Chance, noch einmal von neuem zu beginnen, und das sollten wir auch, und zwar als wahre Männer. Wir werden sie wissen lassen, was wir von ihnen verlangen, und wir dürfen sie nicht im Unklaren darüber lassen, was als Nächstes folgen wird.«
»Aber dann wissen sie, dass wir kommen. Sie sagten, Sie wollten die Dunkelheit und den Sturm ausnutzen, damit sie uns nicht sehen und wir sie überrumpeln können.«
»Wir haben sie bereits überrumpelt. Im Moment haben sie noch keine Ahnung, was wir vorhaben. Sie können uns von ihrem Strand aus nicht sehen, und dass sie die Motorschlitten gehört haben, ist vollkommen ausgeschlossen. Wir haben das Überraschungsmoment auf unserer Seite, aber das ist nicht mehr als ein Hilfsmittel. Angst hingegen ist eine Waffe. Angst verursacht Chaos, sie säht Zwietracht. Das, meine Freunde, ist es, worauf wir uns konzentrieren müssen.«
Richard hob den Kopf und schaute hinüber zu Bruce, der versuchte, durch das Zielfernrohr seines Gewehrs den Strand abzusuchen.
»Bruce?«, fragte Richard. »Hätten Sie Lust auf einen kleinen Spaziergang?«
Bruce hob den Kopf. »Ich dachte schon, Sie
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