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Sturm der Seelen: Roman

Sturm der Seelen: Roman

Titel: Sturm der Seelen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael McBride
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seinen niemals gekreuzt hatten? Es musste wohl am Schlafmangel liegen. Er war jetzt seit beinahe zweiundsiebzig Stunden ununterbrochen auf den Beinen. Vielleicht auch schon länger. Vielleicht hatte er einen ganzen Tag vergessen. Oder vielleicht waren dies auch die ersten Vorboten einer vollkommen neuen Erfahrung, einer Empfindung, die er sein ganzes Leben lang vermieden hatte: War es Angst, die er da spürte?
    Garrett hob seinen Blick und starrte auf die Berge im Hintergrund. Irgendwo da draußen mussten sie sein. Hielten sie Ausschau nach ihm, so wie er nach ihnen Ausschau hielt? Oder waren sie schon viel näher, versteckten sich in den umliegenden Gebäuden, verkrochen sich in den Schatten, wo man sie nicht sehen konnte? Es brachte nichts, wenn er sich länger den Kopf darüber zermarterte. Sie würden kommen, höchstwahrscheinlich im Schutz der Nacht, aber ihre Opfer waren nicht wehrlos, sie würden nicht fliehen, sie würden stehen oder fallen und kämpfen bis zum Letzten. Sie würden sich nicht widerstandslos in ihr Schicksal ergeben, sondern dagegen ankämpfen, mit Zähnen und Klauen, im Todeskampf sterben, falls das ihr Los war.
    Die wichtigste Frage war, ob Richard rechtzeitig zurück sein würde. Er wollte gar nicht daran denken, was mit ihm geschehen würde, wenn sie ihn da draußen überraschten. Richard war stark, aber Stärke und Feuerkraft konnten eine derartige zahlenmäßige Unterlegenheit nicht wettmachen. Schlimmer noch … was würde aus dem Rest werden, wenn Richard etwas zustieß? Er war im wahrsten Sinne des Wortes ihr Anführer, der Kopf des Tausendfüßlers, der als Einziger diese Unzahl an Beinen in eine gemeinsame Richtung führen konnte. Ohne ihn würden sie im Chaos versinken.
    Er hatte den Ausdruck in Richards Augen sofort wiedererkannt. Wie bei seinem Vater hatte es nicht den geringsten Sinn, sich ihm zu widersetzen. Garrett hatte gelernt, sich einem Mann, der derart besessen war, nicht in den Weg zu stellen. Männer von einer solchen Entschlossenheit konnten unglaublich gefährlich sein, selbst für ihre Freunde. Er vertraute Richard, er glaubte an ihn. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass der nächste sogenannte Unfall nicht ihm, Garrett, zustoßen konnte.
    Garrett ging zurück in sein Zimmer und riss die Vorhänge von den Fenstern, dann griff er nach einem der Sperrholzbretter, die daneben an der Wand lehnten, und nagelte es vor das Fenster. Noch zwei Bretter, und das Fenster war vollkommen verbarrikadiert. Sicherheitshalber kippte er noch das Bett auf die Seite und lehnte es als zusätzliche Verstärkung gegen die Bretter.
    Sie waren jetzt so gut vorbereitet wie nur irgend möglich. Die Männer, die auf dem Dach Wache standen, wurden jede volle Stunde ausgewechselt, damit sie nicht müde wurden. An jeder Ecke standen zwei weitere mit Gewehren und Schrotflinten, dazwischen jeweils noch zwei, um auch jeden Winkel des Grundstücks abzudecken, und sechzehn weitere Männer gingen innerhalb des Zauns Patrouille. Gott allein wusste, ob auch nur einer von ihnen halbwegs vernünftig schießen konnte, aber Garrett glaubte ohnehin, dass jeder Schuss unten auf dem Boden auf sehr kurze Entfernung abgegeben würde. Die Anweisungen, die sie ihnen erteilt hatten, waren denkbar einfach, wie zur Benutzung einer Kamera: anlegen, zielen und schießen. Das musste reichen. Die Frauen und Kinder sorgten dafür, dass ständig heißer Kaffee und Tee bereitstanden, und für den späten Nachmittag bereiteten sie so etwas wie ein Festbankett vor. Bei Einbruch der Nacht musste alles vorüber sein. Die Männer mit vollen Bäuchen auf Wache zu schicken bereitete Garrett Sorgen – es würde sie nur träge machen, aber er konnte ihnen dieses Fest auch nicht verbieten, vor allem nicht, da es ihr letztes sein konnte.
    Seufzend machte er sich an die Aufgabe, die als Nächstes anstand. Sie waren noch nicht dazu gekommen, die Leitungen zu überprüfen, und deshalb hatte es auch noch niemand gewagt, die Spülung zu betätigen. Aber das war nicht der Grund, warum er die winzige Toilette betrat. Der Mann, der ihn draußen auf dem Flur belästigt hatte, saß dort. Die Hände mit Klebeband hinter dem Rücken zusammengeschnürt und die Beine von den Knien abwärts bis hinunter zu den Knöcheln zusammengebunden, kauerte er auf der Schüssel. Das Kinn auf die Brust gesunken, hockte er mit blutverkrusteten Augen und Nase da, ohne sich zu bewegen. Eine dicke Schorfschicht überzog das ansonsten überraschend weiße Gesicht

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