Sturm der Seelen: Roman
und bedeckte die Ränder des Klebestreifens über seinem Mund. Als Garrett ihn hierhergeschleppt hatte, war er noch am Leben gewesen. Er zog das Klebeband von den Lippen, und der Mann fiel von dem Toilettensitz, ohne dass sich seine Körperhaltung irgendwie veränderte, als hätte bereits die Totenstarre eingesetzt. Nach der Schlacht dürfte die Leiche zusammen mit den anderen Toten leicht zu entsorgen sein. Zunächst jedoch war es an der Zeit, sich den Festlichkeiten unten anzuschließen. Garrett würde zwar das Essen nicht anrühren, damit der Hunger ihn wach hielt, aber der Rest der Truppe musste in die richtige Stimmung gebracht werden. Sie brauchten so etwas wie eine der legendären Ansprachen, mit denen Vince Lombardi sein Team vor jedem Finale anheizte, und er war derjenige, der sie halten würde. Er war wie geschaffen für diese Aufgabe. All die Jahre in den unzähligen Umkleidekabinen, in denen er sich Steroide injizierte, um das Tier in ihm zum Leben zu erwecken, all die Infusionen, die er sich gegen die Krämpfe gelegt hatte, und die Schmerztabletten, die es ihm erlaubten, mit Kopf und Fäusten gegen Spinde zu schlagen, um den Rest der Mannschaft an den Rand der Raserei zu bringen. Es lief alles auf diesen einen Moment hinaus, der jetzt vor ihm lag. Er würde eine Rede halten, die in die Annalen der Geschichte eingehen würde, weitergereicht von Generation zu Generation der Überlebenden. Sein Name würde noch weiterleben, wenn sein Körper schon längst Blumendünger war.
Mit stolzgeschwellter Brust ging er hinaus auf den Flur und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
Hätte er nur einen kleinen Moment an der Tür verweilt, anstatt sofort zum Treppenhaus zu gehen, hätte er vielleicht ein Keuchen gehört oder das Geräusch von Stoff, der über Linoleum reibt. Vielleicht ein Stöhnen oder einen unterdrückten Schmerzenslaut.
Vielleicht hätte er auch einfach den Puls des Mannes überprüfen sollen.
XXXVIII
AUF DEM GROSSEN SALZSEE
Schneewolken aufwirbelnd jagten die Motorschlitten über die endlose weiße Ebene, auf der sich immer noch Wellenkämme abzeichneten, als wäre die Wasseroberfläche in dem Moment, als sich der Sturm über den See senkte, zu einer Momentaufnahme erstarrt. Links und rechts zogen glatte Felsformationen an ihnen vorbei, Inseln, die jetzt von Schnee eingeschlossen waren. Sie fuhren in einer V-Formation wie ein Gänseschwarm und ließen respektvollen Abstand zu ihrem jeweiligen Nebenmann, um ihr Gewicht auf eine möglichst große Fläche zu verteilen. Bis jetzt hatte es nicht das geringste Anzeichen gegeben, dass das Eis einbrechen könnte, und all ihre Bedenken waren verflogen. In Richard stieg ein Gefühl der Unbesiegbarkeit auf, eine Kraft, die er aus jeder Pore ausstrahlte.
Er hatte unterschätzt, wie groß der See war. Es war eher ein Binnenmeer, ein Überbleibsel der Ozeane, das diese auf dem Festland zurückgelassen hatten, als die Kontinente sich verschoben. Fast einen halben Tag hatte es sie gekostet, auf dem Highway um ihn herumzufahren, und mit den Schneemobilen ging es kein bisschen schneller, auch wenn sie diesmal den direkten Weg nahmen. Wären sie stattdessen am Ufer entlang bis zu der Höhle gefahren, hätten sie damit mindestens einen ganzen Tag verschwendet. Richard wusste nicht, wie lange sie noch brauchen würden, bis sie das Westufer erreichten, aber er hatte auch so schon genug Zeit allein mit sich und seinen Gedanken gehabt, um einen Plan auszuarbeiten. Es wäre ein Leichtes, einfach in das Lager der anderen zu marschieren, sie alle abzuschlachten, den Jungen mitzunehmen und sich, kaum fünfzehn Minuten später, schon wieder auf den Rückweg zu machen, doch gleichzeitig wusste Richard, dass dies die Gelegenheit war, das erste Kapitel seiner eigenen Legende zu schreiben. Er überlegte, was ein wahrer Herrscher, ein Kaiser, getan hätte. Laotse hatte Krieg als eine Form der Kunst bezeichnet, und Richard würde hier und heute sein Meisterstück abliefern. Sein Gefolge sollte ihn als lebende Legende verehren, gefürchtet und respektiert, jemand, dessen Willen man nicht hinterfragt.
Und Richard wusste genau, was er zu tun hatte.
Er suchte den Horizont nach der Felsinsel ab, die er vom Strand vor der Höhle aus gesehen hatte. Von dort, aus westlicher Richtung, hatte ihre Form ihn an den Rücken eines Seeungeheuers erinnert. Wie sie wohl von der anderen Seite aussehen würde? Sie durften sie in ihrer Eile nicht verpassen und übers Ziel hinausschießen,
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