Sturm: Die Chroniken von Hara 4 (German Edition)
zusammenfanden, sodann in sieben unterschiedlichen Richtungen auseinanderflogen und sich schließlich in Funken verwandelten. Kaum dass diese verloschen waren, senkte sich tiefe Finsternis herab. Schon nach kurzer Zeit zeichneten sich die grellen Feuerlinien der Wegblüte jedoch wieder ab. Die Hauer schienen sich in Thia hineinbohren zu wollen, erstarrten jedoch unmittelbar vor ihrem Körper und gaben einen kristallklaren Ton von sich.
Der ganze Vorgang dauerte weniger als eine Sekunde, aber Thia meinte häufig genug, es verginge eine Minute, vielleicht sogar zwei.
Am Ziel angelangt, erfasste sie den runden Saal mit einem Blick. Er lag im obersten Geschoss des Turms und besaß eine gläserne Kuppeldecke. Ihn mithilfe einer Wegblüte aufzusuchen, war wesentlich einfacher, als die zahllosen Treppen selbst hinaufzustapfen.
Der Saal diente als Orangerie, in der die seltensten und seltsamsten Blumen aus ganz Hara zu bewundern waren. Die singenden Blumen Argads begrüßten Thia mit einem freundlichen Nachtigalltrillern und öffneten ihre violetten Blüten. Die Duftende Platterbse aus Urs raschelte mit ihren silbrigen Härchen und schnellte zum Fenster zurück. Die würzigen Bäume des Nachtwalds, der wild in namenlosen Ländern hinter der Großen Wüste stand, leuchteten sogar tagsüber. Ihre halb durchscheinende Rinde brannte mit einer türkisfarbenen und smaragdgrünen Flamme, die knorrigen Äste mit den länglichen Samen streckten sich Thia entgegen und verteilten ihren aromatischen Blütenstaub im Raum.
»Du kommst spät«, erklang nun eine trockene Stimme.
Soritha kümmerte sich gerade um die Schneeglöckchen und hatte keinen Blick für ihre einstige Schülerin übrig.
»Seid gesegnet, Mutter«, begrüßte diese sie mit der rituellen Formel.
»Du strapazierst meine Geduld, denn ich habe dich bereits mehr als einmal gebeten, die Wegblüte nicht zu benutzen, es sei denn, dich veranlassen triftige Gründe. Das Geflecht zur Ortsveränderung irritiert die Pflanzen.«
Als ob du die Treppen nimmst!, dachte Thia bei sich.
Endlich riss sich Soritha von der Betrachtung der Schneeglöckchen los und drehte sich um. Sie hatte ein äußerst unangenehmes Gesicht mit breiten, geraden Nasenflügeln, einem gewaltigen Quadratkinn und einer niedrigen Stirn.
»Dass mir das nicht noch einmal vorkommt«, verlangte Soritha.
»Ich gebe ja offen zu, dass mir meine armen Füße teurer sind als die Blumen, Herrin Soritha.«
»Daran hege ich nicht den geringsten Zweifel«, giftete diese. »Aber merk dir für die Zukunft eins: Meine Blumen schätze ich höher als deinen eitlen Kopf.«
Thia war so klug, diesmal zu schweigen.
»Im Übrigen habe ich ein ernstes Wörtchen mit dir zu reden«, fuhr die Mutter fort. »Seit du das Regenbogental verlassen hast und nicht mehr meine Schülerin bist, trittst du auf der Stelle. Das ist untragbar, Thia«, kanzelte Soritha sie ab, nahm die Gießkanne und ging damit zu den fleischfressenden Pflanzen. »Dabei wäre es deine Pflicht, nach Höherem zu streben. Stattdessen machst du seit über einem Jahr Rethar schöne Augen und vernachlässigst deine Entwicklung völlig. Du steckst dir nicht einmal Ziele. Der Aufnahme in den Rat bist du nicht einen Schritt näher gekommen. Obwohl du mittlerweile weit über zwanzig Jahre alt bist, hast du noch nichts erreicht. Außer in der Liebe, versteht sich.«
Auf Sorithas Gesicht spiegelte sich abgrundtiefe Verachtung.
»Was ist schlecht an der Liebe?«, fragte Thia.
»Nichts. Aber wenn diese Narretei dich daran hindert, deine eigentlichen …«
»Sie hindert mich an gar nichts!«
»Du bist zu unverständig, um zu entscheiden, was zu deinem Besten ist und was nicht.«
»Wagt es nicht, in diesem Ton mit mir zu reden … Mutter!«
»Drohst du mir?«, fragte sie, während sie völlig ungerührt eine Pflanze, die sich gerade auf sie stürzen wollte, mit einem Lähmungszauber außer Gefecht setzte. Anschließend goss sie die Blume mit dem Inhalt der Gießkanne. Es war Blut. »Falls du vergessen haben solltest, rufe ich dir gern in Erinnerung, wer ich bin – und wer du.«
»Ich bin eine Schreitende!«, entfuhr es Thia, deren Augen sich verdunkelten.
»Pah! Darauf kannst du dir aber ordentlich was einbilden. Solche wie dich – talentierte, aber nicht allzu ehrgeizige junge Frauen – gibt es zu Hunderten. Glaub mir, niemand bringt einer verliebten Närrin Respekt entgegen. Die Menschen gehen nur vor den Starken dieser Welt in die Knie.«
»Solchen, wie
Weitere Kostenlose Bücher