Sturm: Die Chroniken von Hara 4 (German Edition)
eingeschlafen, aber ich wollte Yola nicht beleidigen. Die Karten hatten eine zu große Bedeutung für sie, als dass sie eine solche Schlappe hätte wegstecken können.
»Einverstanden«, sagte sie mit angespannter Stimme, und ihr Blick huschte noch einmal zum Tisch, auf dem nach wie vor das unvollendete Muster lag.
Damit ging die ganze Prozedur noch einmal von vorn los. Ich deckte wieder eine Karte auf – und wieder war es der Schlüssel. Danach wählte ich erneut einen Stapel. Yola legte ihr Muster und murmelte dabei vor sich hin, während ich geduldig wartete.
Mindestens zehn Minuten vergingen, ehe Yola mir einen eindringlichen Blick zuwarf und die Karten einsammelte.
»Und?«, sagte ich, wobei ich möglichst viel Neugier in meine Stimme legte.
»Spiel mir nichts vor, Grauer«, erwiderte sie lachend. »Du glaubst ja doch nicht an meine Karten.«
»Trotzdem …«
»Ich sehe nichts Ungewöhnliches«, erklärte sie mit hochzufriedener Miene. Was ich ihr allerdings nicht abkaufte. »Ein Leben wie jedes andere auch. Sie wird glücklich, zufrieden und sehr alt werden, um dann zusammen mit dir am gleichen Tag zu sterben.«
»Wie komme ich da ins Spiel?«
Sie brach in schallendes Gelächter aus und spreizte kurz die Flügel.
»Schlaf jetzt«, sagte sie dann. »Du solltest im Moment überhaupt an nichts anderes denken als daran, gesund zu werden.«
Das alte Küken strahlte vor Zufriedenheit, blies die Kerze aus, verließ den Raum – und ließ mich völlig verständnislos zurück.
Kapitel
25
»Sie bringt uns beide um.«
Mittlerweile hasste Algha diese Worte. Sie lähmten sie, raubten ihr jeden Willen zu leben und zu kämpfen. Sie zu überhören kostete Algha entsetzliche Mühe. Wenn sie das jedoch nicht tat, würde sie zusammenbrechen, das wusste sie. Nur wiederholte Mitha diese Worte Tag und Nacht, Stunde um Stunde.
»Sie bringt uns beide um.«
Mit schlecht verborgener Wut sah Algha zu ihrer Freundin hinüber, schwieg jedoch. Längst wusste sie nicht mehr, was sie hätte sagen können.
Sollte sie Mitha anfahren? Bitten, endlich Ruhe zu geben? Sie anlügen, dass schon alles in Ordnung käme?
All das hatte sie bereits versucht. Vergeblich. Denn Mitha war gebrochen. Ihr gehetzter Blick, das leise klägliche Weinen und die zitternden Hände legten ein beredtes Zeugnis davon ab. Seit Mitha der Verdammten Blatter hatte unter die Augen treten müssen, war von der lebenslustigen Frau aus dem Regenbogental nicht das Geringste übrig geblieben.
Algha dachte mit Grauen daran, was aus ihr werden würde, wenn man sie Blatter erneut vorführte. In was würde sie sich danach verwandeln? Würde auch sie als solch schlotterndes Mäuslein in die Zelle zurückkehren?
Allein der Gedanke daran jagte ihr einen größeren Schrecken ein als der an den Tod. Sie wollte auf keinen Fall zusammenbrechen – sondern sich rächen, auch wenn sie begriff, dass Ersteres weit wahrscheinlicher war als Letzteres.
Sie hatte sich geschworen, stark zu sein?
O ja! Nur war das unsagbar schwer!
Jetzt, da man sie in eine Zelle gesperrt, sie von ihrem Funken abgetrennt und geschlagen hatte. Wiederholt hatten ihre Peiniger sie hungern lassen und ihr angedroht, der nächste Tag werde ihr letzter sein. Ka strich um sie herum wie ein hungriger Hai, der ein untergehendes Schiff umkreist. Er fieberte dem Moment entgegen, da seine Herrin des neuen Spielzeugs überdrüssig werden würde.
Blatter indes schien ihre zweite Gefangene schlicht und ergreifend vergessen zu haben. Mit ihr, Algha, beschäftigte sich ausschließlich Kadir, dieser strenge und aufbrausende Mann, dessen Kleidung stets Moschusgeruch verströmte. Seine spitzen Bemerkungen trieben Algha oft genug Tränen in die Augen.
»Sie bringt uns um. Genau wie Dagg.«
Mitha stierte mit ausdruckslosem Blick ins Nichts.
Algha trat schweigend an das kleine Fenster, öffnete es und spähte nach unten, während sie die kristallklare, frische Luft tief in sich einsog. Sie roch nach Linden und nach baldigem Regen. Der Geruch war erstaunlich aromatisch und würzig. Vor diesem Fenster lag die Freiheit, die ihr genommen worden war.
Wenn sie doch bloß eine Ye-arre wäre! Könnte sie fliegen, wäre sie schon längst von diesem Ort geflohen. So aber schien sie in ein Märchen geraten zu sein, das ihre Mutter ihr und Rona vor langer Zeit erzählt hatte.
Ein Märchen mit einer Gefangenen, einem Turm und einem Fenster. Nur fehlten ihr die Zeit und das lange Haar, um daraus eine Strickleiter zu
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