Sturm: Die Chroniken von Hara 4 (German Edition)
flechten, die sie zur Erde hinunterbrächte. Bis dorthin waren es von hier oben gut dreißig Yard.
Das war zu hoch für einen Sprung …
Allerdings gab es unter dem Fenster ein schmales Gesims, das nach gut zehn Yard zu einer Regenrinne führte. Aber nur eine Selbstmörderin würde wohl diesen Weg wählen. Man konnte kaum einen Fuß auf den Sims setzen, geschweige denn zehn Yard darauf balancieren, ohne das Gleichgewicht zu verlieren.
Trotzdem hätte sie es am Morgen fast gewagt. Allein der scharfe Wind hatte sie dann von dem gefährlichen Abenteuer abgehalten.
»Sie weiß, wer ich bin«, stammelte Mitha und fing wieder an zu weinen. »Das ist mein Ende.«
Algha seufzte schwer, setzte sich neben ihre Freundin aufs Bett und versuchte, sie zu trösten. Diese murmelte jedoch nur immer wieder, sie beide würden sterben. Irgendwann schlief sie endlich ein, sodass Algha ans Fenster zurückkehrte und lange hinausschaute. Der Westwind brachte von der Stadt her Gewitterwolken mit.
Trask, die bedeutende Handelsstadt an der Kreuzung der beiden größten Straßen im Norden des Imperiums, schien sich förmlich zusammenzukauern. Es fürchtete die Feinde, selbst wenn es kampflos kapituliert und Blatter den Stadtschlüssel auf einem samtenen Kissen überreicht hatte. Die riesige Armee, die im Umkreis stationiert worden war, ließ die friedlichen Bewohner vor Angst zittern. Einige nahe gelegene Dörfer standen bereits in Flammen, und jeder, der beim Anblick der Soldaten nicht kuschte, wurde ohne viel Federlesens aufgehängt.
Im Süden mochten sich die Nabatorer gegenüber den Menschen des Imperiums ja noch recht zurückhaltend gezeigt haben. Aber hier im Norden, wo ihnen die verzweifelte Armee erbitterten Widerstand leistete, verrohten sie zunehmend.
All die Brandstätten und Toten, die Algha auf dem Weg hierher gesehen hatte, standen ihr noch lebhaft vor Augen. Ihre Zahl war beklemmend.
Für die Reise nach Trask waren sie und Mitha auf einen alten Karren geladen worden, eingesperrt in einem Holzkäfig und bewacht von Ka und Kadir. Algha hatte sich wie ein wildes Tier gefühlt, das Tag und Nacht, bei Sonnenschein oder Regen der versammelten Menge vorgeführt wurde. Unterwegs wurden sie entsetzlich durchgeschüttelt, dichter Staub hing in der Luft, ließ ihre Augen tränen, brachte sie beide zum Husten und Niesen.
Unzählige Einheiten der Nabatorer waren an ihnen vorbeigezogen. Die Männer hatten sie angestiert, über sie gelacht und mit dem Finger auf sie gezeigt. Algha hatte versucht, nicht auf diese Kerle zu achten, hatte sie im Stillen verflucht und ihnen allen gewünscht, sie mögen gleich in der ersten Schlacht verrecken.
Denn Blatters Armee, die vier League von Trask entfernt stand, bereitete sich auf den Kampf vor. Es galt, die Festungen im Umkreis der Hauptstadt zu erobern, um ungehindert gen Korunn ziehen zu können.
Nun wanderten Alghas Gedanken ins Regenbogental, das sich jetzt in der Hand der Feinde befand. Wer auch immer versucht hatte, die Schule vor diesem Schicksal zu bewahren, war inzwischen tot. Bislang hatte Algha noch gehofft, wenigstens irgendjemand möge überlebt haben. Diese Hoffnung hatte Mitha zerstört. Sie, Algha, würde niemanden aus dem Regenbogental je wiedersehen.
Ebenso wenig wie ihre Schwester. Allein die Erinnerung an Rona verursachte ihr einen solchen Schmerz, dass sie am liebsten gestorben wäre.
Gerade winselte Mitha leise im Schlaf. Albträume suchten sie heim. Algha selbst träumte nach wie vor von der Nekromantin – aber sie erhielt in ihren Träumen nicht den ersehnten Hinweis, wie sie den Armreif loswerden konnte. Denn dort, in ihren Träumen, trug sie das schreckliche Ding einfach nicht, sodass sie ihren Funken uneingeschränkt benutzen konnte.
Immerhin vervollkommnete sie sich auf diese Weise, sog Wissen auf wie ein Schwamm Wasser. Mittlerweile wirkte sie spielend selbst komplizierte Zauber im Kopf. Sie vermochte sich eine unglaubliche Zahl von Varianten all jener Geflechte einzuprägen, die der Turm seit Langem für verloren hielt. Erst in der letzten Nacht hatte Algha ein weiteres erfahren, ein Geflecht, das den Funken seines Opfers für einige Sekunden auf einen hundertstel Bruchteil schwächte.
Wenn sie diesen Zauber früher gekannt hätte, wäre vielleicht alles anders gekommen …
Mit einem Mal vernahm sie auf der Treppe Schritte. Eine Minute später wurde die Tür geöffnet und Kadir trat ein, sah sich aufmerksam im Raum um und winkte dann zwei Nabatorer herein,
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