Sturm: Die Chroniken von Hara 4 (German Edition)
die eine Karaffe mit Wasser und zwei Schalen mit einer warmen Mahlzeit brachten.
»Lasst euch das Mittagessen schmecken. Das im Übrigen auch euer Abendessen ist«, sagte Kadir, lässig auf seinen Stab gestützt. »Morgen wird eine von euch beiden dem Herrn Ley-ron vorgeführt. Er wird nicht so freundlich sein wie die Sterngeborene. Ich könnte mir vorstellen, dass diese eine dann nicht mehr lange unter uns weilt.«
Unter höhnischem Gelächter verließ er die Zelle und schloss hinter sich ab. Algha musste sich mit aller Gewalt zwingen, die Karaffe nicht gegen die Tür zu schleudern. Als sie sich beruhigt hatte, eilte sie zu Mitha.
Diese schlief nicht mehr.
»Sie bringt uns um«, winselte sie. »Jetzt bringt sie uns ganz bestimmt um. Oder er.«
»Schweig!« Zum ersten Mal in der ganzen Zeit erhob Algha die Stimme. »Niemand wird uns auch nur ein Härchen krümmen. Komm her und iss etwas. Wir müssen bei Kräften bleiben.«
Doch Mitha schüttelte nur den Kopf und drehte sich zur Wand. Ihre Schultern zuckten verdächtig.
So aß Algha allein und in düsterem Schweigen. Obwohl die Ankündigung Kadirs sie in Angst und Schrecken versetzt hatte, versuchte sie, Ruhe zu bewahren. Nachdem sie ihre Schale geleert hatte, trank sie das Wasser: Nun war sie zur Flucht bereit.
Sie wollte dem Verdammten Pest um keinen Preis in die Hände fallen. Gut, er war nicht Schwindsucht, aber Meloth allein wusste, was er mit ihr anstellen würde. Blatter, die unbedingt diesen Heiler in die Finger bekommen wollte, würde zwar vermutlich nicht sie, Algha, ihrem Spießgesellen überlassen, auch wenn sie ihr bei dieser Geschichte mit dem gesuchten Heiler nicht wirklich nutzte – trotzdem wollte sie es nicht darauf ankommen lassen. Und sterben würde sie ja eh …
»Mitha!« Sie schüttelte ihre Freundin an der Schulter. »Ich will von hier fliehen.«
»Das ist unmöglich«, antwortete diese schluchzend. »Ich bin von meinem Funken abgetrennt.«
»Wir schaffen das auch ohne ihn. Unter dem Fenster verläuft ein Gesims. Es ist sehr schmal, aber wenn wir über diesen Vorsprung zu der Regenrinne gelangen … An der könnten wir uns hinunterhangeln und dann weglaufen.«
»Nein! Die fangen uns wieder ein! Und dann bringen sie uns um! Ich will so nicht sterben, Algha! Die werden keine Gnade mit uns kennen. Genau wie bei Dagg. Du hättest all das Blut sehen sollen …«
»Unsere Flucht wird glücken, glaub mir! Also reiß dich zusammen. Wir sind keine Lämmer, dass wir uns einfach von denen zur Schlachtbank führen lassen! Man muss sich wehren! Bis zum letzten Atemzug!«
»Lass mich in Ruhe!«, jammerte Mitha. »Ich komme nicht mit.«
Unsagbar enttäuscht trat Algha wieder ans Fenster. Sie wollte Mitha hier nicht allein zurücklassen, noch dazu in diesem Zustand – aber anscheinend blieb ihr keine andere Wahl.
Bis zum Einbruch der Nacht war noch reichlich Zeit. Sie betrachtete erneut das Gesims, die Mauer und die Regenrinne mit der steinernen Verschalung auf der einen und dem Gitter auf der anderen Seite. Jeden Stein, auf den sie ihren Fuß setzen wollte, jeden Riss im Gemäuer, in das sie ihre Finger schieben konnte, suchte sie sich einzuprägen. Danach tastete sich ihr Blick eine Stunde lang durch die nähere Umgebung, obgleich sie diese bereits bestens kannte: Im Garten gab es einen Teich mit einer Insel, auf der eine alte Laube stand. Hinter dem Teich wuchsen wilde Linden, rechts von ihm begannen unbestellte Felder, die nach einer halben League in Wald übergingen. Dieser Wald war Alghas Ziel.
In der ganzen Zeit, die sie hier am Fenster verbrachte, war unten nur eine Patrouille aus drei Soldaten langmarschiert. Sie hoffte inständig, dass bei ihrer Flucht ebenfalls niemand unten Wache schob und Alarm schlug.
Eigentlich hatte sie bei Nacht fliehen wollen, diesen Plan dann aber aufgegeben: Im Dunkeln würde sie das Gesims niemals lebend bewältigen. Deshalb hatte sie sich nun für den frühen Morgen entschieden.
Sie legte sich schlafen, wachte aber alle paar Minuten auf, hochgeschreckt von der Angst, den Tagesanbruch zu verpassen. Kurz nach Mitternacht kapitulierte sie: Sie würde diese Nacht eh kein Auge zumachen. Mithas unruhiger Atem gab ihr zu verstehen, dass ihre Freundin ebenfalls wach lag. Deshalb versuchte sie sie noch einmal zu überzeugen, dass ihre einzige Hoffnung in der Flucht bestand. Immer neue Argumente, warum sie nicht hierbleiben dürften, brachte sie vor, doch Mitha weigerte sich nach wie vor hartnäckig zu
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