Sturm: Die Chroniken von Hara 4 (German Edition)
mit Bändern und Tannenzweigen verzierten Rathaus türmten sich mehr als zwei Dutzend Eisblöcke, die an grünliches Flaschenglas erinnerten. Jeder Block war vier bis fünf Yard hoch, und was er wog, konnte Algha nur vermuten. Von ihnen wehte sie eine derart grimmige Kälte an, dass Algha genauer hinsah, bis sie schließlich die Zauber entdeckte, die noch immer in der Luft hingen.
»Ist das deine Arbeit?«, wollte sie von Rayl wissen.
»Ja«, antwortete er. »Es hat mich fast einen Tag gekostet, um das Material für dich vorzubereiten. Weißt du, ich habe mich daran erinnert, was für einmalige Skulpturen du in der Schule im Regenbogental geschaffen hast. Da habe ich mir gedacht, es würde den Menschen hier sicher gefallen, wenn du ihnen deine Kunst vorführst.«
»Und wenn ich mich geweigert hätte, diesen kleinen Ausflug mit dir zu unternehmen?«
»Ich war mir sicher, dass du das nicht tun würdest.«
»Nur weil du mir Milch mit Honig versprochen hast?«, konterte sie. »Krieg ich die eigentlich noch – oder soll ich mich bloß als Bildhauerin verdient machen?«
»Keine Sorge, die kriegst du.«
»Nur verzichte ich heute freiwillig darauf«, erklärte Algha grinsend. »Heute steht mir der Sinn nämlich nach Wein.«
»Auch das ist kein Problem«, versicherte er. »In dieser Schenke gibt es einige Flaschen aus der Goldenen Mark. Der Wein wird dir schmecken. Also, was ist? Erfreust du uns mit deiner Kunst?«
»Ich habe kaum mit Eis gearbeitet«, gab sie zu bedenken, auch wenn in ihrer Stimme keine Unsicherheit mitschwang und die braunen Augen bereits abschätzend über das Material wanderten. »Aber ich nehme die Herausforderung gern an.«
Die Menschen, die sich auf dem Platz eingefunden hatten, begriffen recht schnell, wer da mit dem Glimmenden zu ihnen gekommen war, sodass die üblichen Verbeugungen folgten, die zuweilen sogar von unterwürfigem Gemurmel begleitet wurden. Der gesamte Stadtrat krümmte den Rücken vor Algha und gurrte etwas von der Ehre, die der Besuch einer Schreitenden für Kanderg darstelle. Geduldig ließ Algha diese Zeremonien über sich ergehen und versicherte, die Stadt gefalle ihr ausnehmend gut und sie sei glücklich, sie an diesem außergewöhnlichen Tag besuchen zu dürfen.
Schon bald versammelten sich in Alghas Rücken zahllose Neugierige, die sich freilich nicht allzu nah an die junge Schreitende herantrauten. Aber wie ein Wunder geschaffen wurde, das wollten sie alle mit eigenen Augen sehen.
Algha wusste bereits, wie sie die Eisblöcke gestalten wollte, und sobald sie den vertrauten Zauber gewirkt hatte, machte sie sich ans Werk. Mit einem magischen Strom, der spitz wie ein diamantener Stichel war, trug sie feinste Eisschichten ab. So grub sie sich weiter und weiter in das grünliche Material vor, gab ihm Form und Konturen, hauchte ihm Farbe und Leben ein.
Unter dem unsichtbaren Werkzeug verwandelte sich das Eis in eine Art Lehm, in geschmolzenes Wachs und glühendes Eisen, das allen Befehlen der Schreitenden willig nachkam. Es klirrte und zitterte vor Begeisterung, als es den Funken spürte, der es bearbeitete.
Algha vergaß alles um sich herum. Sie hörte weder die begeisterten Ausrufe hinter sich noch fing sie die verzückten Blicke auf oder achtete auf den Beifall, der ausbrach, wenn eine weitere Figur vollendet war. Erst als sie mit angehaltenem Atem auch den letzten Block fertigstellte, tauchte sie wieder aus ihrer Versenkung auf.
Vor der bezauberten Menge standen kleine Schlösser, Ritter auf ihren Pferden, ein Adler mit gespreizten Flügeln, jene sagenhaften Giraffen mit den langen Hälsen, von denen bisher alle nur gehört hatten, eine junge Frau mit einem Krug, in den sich Wasser ergoss, ein aus dem Meer springender Delphin, ein Blasge, ein Schwarm Schmetterlinge, der Turm von Alsgara, eine Schreitende, die gerade einen Zauber wirkte, und unzählige weitere Skulpturen.
Jede einzelne war ein echtes Kunstwerk und glitzerte in den Sonnenstrahlen wie wertvoller Beryll aus dem Süden. Die Menschen gingen um die Statuen herum und schüttelten, von dem Anblick überwältigt, staunend die Köpfe. Algha hielt unterdessen nach Rayl Ausschau, konnte ihn aber nirgends entdecken. Daraufhin umrundete sie den Platz. Kurz darauf rief er ihren Namen.
»Die sind einfach umwerfend!«, äußerte er sich begeistert. »Das hätte selbst ich nicht erwartet. Aber diese Skulpturen sind wirklich wunderschön.«
»Ach was«, entgegnete sie bloß. »Und lange stehen werden sie auch
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