Sturm: Die Chroniken von Hara 4 (German Edition)
zurückgekehrt, um sich ein Pferd zu besorgen. In ihrem Kopf hatten die Worte Dawys nachgehallt, sein Bruder müsse bald eintreffen. Bräche sie also zu Fuß auf, würde dieser sie ohne Frage in kürzester Zeit einholen, das war ihr klar, selbst wenn ihr Verstand durch den Schmerz getrübt war.
Sie hatte sich durch den Schneesturm und den Frost, der sich durch die Kleidung fraß, gekämpft. Auf der Straße war ihr niemand begegnet, in den Fenstern hatte trübes Licht geschimmert. Algha hatte die Häuser jedoch gemieden. Furcht ließ sie vorsichtig und misstrauisch werden. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie sich begeben oder was sie als Nächstes tun sollte. Mehrfach hatte ihr der Schmerz das Bewusstsein geraubt. Dann war sie im Sattel wieder zu sich gekommen, während sie querfeldein ritt, an einem Fluss mit silbrigen Weiden entlang, dorthin, wo sie niemals irgendjemand finden würde.
»Man darf nicht aufgeben. Ich werde stark sein«, hatte sie mit aufgesprungenen Lippen geflüstert – doch die Schneeflocken waren wie weiße Gespenster um sie herum getanzt und hatten ihr versprochen, ihr den Weg ins Reich der Tiefe zu weisen. Irgendwann hatte sie aufgehört, ihre Beine zu spüren, und gemeint, sie würde über der Erde schweben.
Erst weit nach Mitternacht hatte sie eine breite Straße erreicht. Diese war genauso menschenleer gewesen wie die ganze Welt. Da hatte sie das Bewusstsein für sehr lange Zeit verloren …
Man hatte sie am Straßenrand gefunden und in den Tempel gebracht. Die Priesterinnen hatten sich der Unbekannten angenommen und ihr Obdach gewährt. Bis zum Beginn des Frühlings hatte sie gefiebert, danach hatte ihr noch lange Schwäche zugesetzt.
Das Gespräch mit Dawy hatte seine Spuren hinterlassen, die Folter Tribut verlangt. Selbst heute noch fühlte sich Algha oft wie aus heiterem Himmel matt, dann schwindelte ihr, und heftige Stiche in der Brust sowie Nasenbluten setzten ihr zu. In der ersten Zeit war das noch drei- bis viermal täglich geschehen, doch je kräftiger sie wurde, desto seltener suchten diese Schwächeanfälle sie heim. Auch der Husten, der sie gequält hatte, war abgeklungen. Irgendwann wusste sie, dass sie die Reise nach Korunn bewältigen würde …
Am Morgen nach dem Feiertag brach Algha auf, kaum dass die Priesterinnen das dritte Gebet zu Ehren Meloths beendet hatten und die Glocken verstummt waren. Sie warf sich den Quersack über die Schulter und begab sich zum Tor. Die Priesterinnen hatten ihr ein einfaches dunkles Wollkleid mit weißem Kragen und eine der Jahreszeit angemessene Jacke geschenkt.
Niemand begleitete sie. Die Mutter Vorsteherin hatte sich noch gestern Abend von ihr verabschiedet, nach dem Gottesdienst. Keine der Priesterinnen hatte je erfahren, was für eine Kranke all die Zeit im Tempel gelebt hatte. Sie selbst hatten keine Fragen gestellt – und Algha hatte ihnen nicht auf die Nase gebunden, dass sie eine Schreitende war.
Am Tor drehte sie sich noch einmal um. Mit einem langen Blick sah sie zum Tempel zurück, den sie stets in guter Erinnerung behalten würde. Dann eilte sie zum Markt.
Die drei mit Waren beladenen Wagen kamen zügig voran. Algha saß auf dem letzten von ihnen, zwischen einer Filzhändlerin und dem alten Kutscher, der in einem fort fluchte, sowohl mit als auch ohne Anlass. Drei Soldaten, die man in der Stadt angeheuert hatte, ritten voraus.
Die Filzhändlerin hatte sofort ein Gespräch mit Algha angefangen und zunächst versucht, ihr etwas über ihr Gewerbe sowie die Preise, die zu Beginn des Krieges gestiegen waren, zu erklären, ehe sie dann über ihren Schwiegersohn herzog, der die letzten Sol versoffen hatte, die sie für die Feierlichkeiten zum Geburtstag des Imperators zurückgelegt hatte. Als sie jedoch merkte, dass Algha ihr nicht zuhörte, war sie eingeschnappt und hatte kein weiteres Wort mehr an sie gerichtet.
Über Nacht machte der Zug in einem der zahlreichen Dörfer halt, die entlang der Straße lagen. Algha zahlte für ein Bett und Essen mit dem wenigen Geld, das ihr die Mutter Vorsteherin zugesteckt hatte.
In dem Gutshof mit dem Boden aus nackter Erde und der niedrigen Decke wimmelte es von Flöhen, gegen die sich Algha jedoch mit einem entsprechenden Zauber schützte. Am nächsten Morgen zogen sie bereits in aller Herrgottsfrühe weiter.
Die Straße führte durch Wälder und an unbestellten Feldern vorbei. Die Räder quietschten leise, die Pferde schnaubten, der Kutscher fluchte nach wie vor. Algha, die nicht gut
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