Sturm im Elfenland
verschwinden und für immer verstummen.
Ivaylo bohrte seine Fäuste tiefer in den Heuballen. Die spitzen Enden der Halme rissen seine Haut auf. Er wollte nicht vergessen. Er wollte nicht hierbleiben. Er wollte gehen ‒ noch heute Nacht!
Dann lag er ganz still und atmete so leise wie ein Hase, der sich vor dem Wolf versteckt. Die Pferde kamen zurück. Er hörte den dumpfen Klang ihrer Hufe, ihr Schnauben und das leise Wiehern, mit dem sich zwei von ihnen begrüßten. Der warme, kräftige Geruch ihrer großen Leiber erfüllte die Luft. Die laute Stimme der Stallmeisterin drang an sein Ohr: »Ruhig, Wolke. Lass deine Tochter zu ihrem Platz. Du kommst noch früh genug an die Raufe.« Die Stallmeisterin lachte, es klatschte laut. Wahrscheinlich hatte sie Wolke einen Klaps gegeben. Die Stute war verfressen, sie hatte schon oft ihre Tochter Sandeule beiseitegerempelt, um selbst besser ans Fressen zu kommen. Ivaylo hörte geduldig zu, wie die Stallmeisterin alles für die Nacht bereit machte. So scharf und ungeduldig sie auch mit anderen Elfen sein mochte, ihre Pferde behandelte sie wie eine Mutter ihre Kinder. Ivaylo kannte den Ablauf inzwischen so gut, dass er jedes der Geräusche dort draußen zuordnen konnte. Wasser plätscherte in eine Tränke, frisches Heu raschelte, die Heugabel klirrte gegen einen Stein, ein leerer Eimer fiel um und wurde wieder aufgestellt, dann kratzte ein Striegel über ein verfilztes Fell. Er hörte mahlende Zähne und Atmen und Schnauben und die leisen Klänge, mit denen ein Huf gegen Holz trat, das monotone Summen, mit dem die Stallmeisterin ihr Tun begleitete, und dann das Erwartete: ihre Stimme, die sich erhob, um den Schutzzauber zu sprechen.
Ivaylo lächelte und nickte sich selbst zu. Stümperhaft und nachlässig, genau, wie er vermutet hatte. Sie betonte die Endsilben falsch und verschleifte die Zungenlaute, und zwei der Worte bewirkten das genaue Gegenteil von dem, was sie bewirken sollten. Ganz offensichtlich hatte jemand, der etwas mehr davon verstand, ihr den Zauber beigebracht ‒ und dann hatte er sich im Laufe der Jahre zu dem gewandelt, was Ivaylo nun hörte. Noch ein paar weitere Jahre der Vernachlässigung, und der Zauber wäre so löchrig, dass er überhaupt nicht mehr wirkte.
Sie schloss die Tür und es wurde dämmrig im Stall. Er hörte nur noch die Geräusche, die die Pferde verursachten.
Ivaylo schloss die Augen. Er musste die Mitte der Nacht abwarten, wenn alle schliefen. Die Angeln des Stalltors waren gut geschmiert, davon hatte er sich ein paar Tage zuvor vergewissert. Überhaupt war alles hier hübsch und sauber, gut gepflegt und in Ordnung. Er hätte sich über ein wenig Unordnung und Vernachlässigung gefreut, einen kleinen Makel, der diese harmonische Umgebung weniger perfekt, weniger vollkommen machen würde.
Er schlief ein und träumte davon, mit Calixto durch das Rabental zu reiten. Er hörte die rauen Rufe der großen Vögel und Calixtos Lachen und genoss das Streicheln des Windes auf seinen Wangen. Dies war der Schattenwald. Seine Heimat.
Er erwachte mit einem Ruck und setzte sich hastig auf. Es war so hell, dämmerte schon der Morgen? Hatte er verschlafen?
Sich den Schlaf aus den Augen reibend, sprang er von seinem knisternden Lager. Das Licht, das in den Stall fiel, war zu kalt und zu hell, um frühes Morgenlicht zu sein. Das war der hoch am Himmel stehende Mond, der sein kühles Eislicht über die Welt warf.
Ivaylo ging zu der Box, in der der Fuchs stand. Das Pferd schnupperte an seiner Hand und nahm dann die Mohrrübe, die der Junge ihm hinhielt. Ivaylo kraulte ihm die Stirn und streichelte über seine Nase, dann vergrub er sein Gesicht am Hals des Fuchses und atmete seinen Geruch ein. »Calixto«, flüsterte er, »ich komme.«
Er wischte sich über die Augen und richtete sich auf. »Komm, Abendrot«, sagte er und setzte das sanfte Wort des Ruhigen Folgens hinzu. Der Fuchs spitzte die Ohren und schnaubte, und als Ivaylo sich umwandte und zum Stalltor ging, hörte er, wie das Pferd aus seiner Box trat und hinter ihm herkam.
Ivaylo legte die Hand auf das raue Holz des Tores und spürte dem Zauber nach, der stachlig und spitz darin steckte. Er bog mit einem singenden Flüstern zurecht, was die Stallmeisterin so schief gewirkt hatte, und dann schnalzte er mit der Zunge und hob den Zauber mit zwei scharfen Worten des Schneidenden Lösens auf. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit, horchte, ob sich draußen etwas rührte, und schob sie dann ganz auf.
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