Sturm im Elfenland
fortgeschickt, um ungestört mit ihm reden zu können, und sich auch von Ivaylos unverhohlenem Misstrauen nicht beirren lassen. Er hatte sich danach erkundigt, ob Ivaylo sich schon eingelebt hatte und wie er sich fühlte, hatte sich die wortkargen Antworten angehört und mitfühlend genickt und hatte dann gefragt, ob er seine Eltern denn sehr vermisse.
Diese unverblümte Frage traf Ivaylo wie ein kalter Guss, der ihn gleichzeitig aus seiner Reserve holte und die dunkle Wolke vertrieb, die über seinem Gemüt hing. Niemand hier sprach ihn auf seine Eltern an. Alle taten so, als gäbe es Farran und Audra nicht und als hätte es sie nie gegeben. Hier im Hause seines Onkels hatte Ivaylo sich zum ersten Mal wie ein wahrhaft mutterloser Junge zu fühlen begonnen: ohne Wurzeln, ohne Heimat, ohne Vergangenheit.
Er stotterte einige nichtssagende Worte, auf die Erramun nur nachdenklich nickte. »Niemand hier spricht über sie«, sprach er dann das aus, was Ivaylo dachte. »Es ist, als hätte es sie nie gegeben.«
»Kennst du meine Eltern?«, hörte Ivaylo sich fragen. Er biss sich auf die Zunge, als die Worte heraus waren. Keiner der Elfen hier im Haus war ihm wichtig. Er wünschte sich weder Mitleid noch Freundschaft, mit keinem von ihnen, auch nicht mit einem Bediensteten, wie der Hauslehrer und Bibliothekar es war. Er wollte sich hier nicht einrichten. Er wollte sich nicht wohlfühlen oder auch nur abfinden. Dies war nicht sein Zuhause und würde es auch nie sein. Die Familie seines Onkels war ihm gleichgültig, er mochte weder seinen Cousin noch seine Cousine leiden ‒ und würde es auch nie tun.
Der Hauslehrer beantwortete seine Frage nicht. Er hob die Schultern in einer beinahe entschuldigenden Geste und legte den Kopf schräg. »Du bist hier willkommen«, sagte er. »Herzlich willkommen. Ich kann sehen, dass du Fähigkeiten hast, die Aindrus weit übertreffen.« Seine schräg stehenden Augen musterten Ivaylo mit freundlichem Interesse. »Deine Eltern haben dich sicherlich unterwiesen.«
Ivaylo bemühte sich um einen Gesichtsausdruck, der ebenso nichtssagend war wie sein Schweigen.
Erramun hob eine Braue. »Ich meine die alte Kunst«, erklärte er, was Ivaylo längst begriffen hatte. Der Junge zuckte gleichgültig mit den Achseln. Er wollte sich nicht mit Erramun unterhalten, auch nicht über das Thema, das ihn am allermeisten auf der Welt fesselte.
Der Lehrer wartete eine Weile, dann hob er ebenfalls die Schultern und lächelte.
»Du willst nichts von uns wissen«, sagte er. »Und du vermisst dein Zuhause, deine Freunde und deine Eltern.« Er stand auf und legte seine Hand kurz und fest auf Ivaylos Schulter. »Ich möchte, dass du weißt, dass ich hier bin, wenn du jemanden brauchst, mit dem du reden willst. Ich gehöre nicht zu deiner Familie und ich will nichts von dir. Ich bin nur da.«
Er nickte Ivaylo noch einmal zu, dann ging er zur Tür und rief: »Wo bleibt ihr? Alana? Aindru?«
Ivaylo wartete nicht ab, bis die Geschwister wieder eintraten. Er sagte: »Ich werde darüber nachdenken«, und drückte sich an Erramun vorbei zur Tür hinaus.
Er drehte sich auf den Bauch, lauschte dem Knistern des Strohs, atmete den herben Geruch ein und grub das Kinn und seine Fäuste hinein. Die trockenen Halme piksten durch seine Kleider und der feine Staub kitzelte in seiner Nase. Erramuns freundliche, aber dennoch distanzierte Art hatte ihn berührt. Trotzdem blieb Ivaylo misstrauisch. Der Lehrer bezweckte sicher etwas. Wahrscheinlich war auch das nur ein Versuch, ihn vergessen zu machen, woher er kam und wer er war.
Wenn er sich auf all das hier einließ, würde seine Erinnerung nach und nach verblassen. Er würde den Schattenwald vergessen und Calixto, er würde sich nicht mehr daran erinnern, wie ein Sonnenuntergang aussah, wenn man ihn von der Koboldkuppe aus betrachtete, Kopf an Kopf in den blasser werdenden Himmel blinzelnd, der so weit und hoch und leer war, dass man irgendwann hineinzufallen glaubte, die Erde auf dem Rücken wie einen riesigen Rucksack. Er würde die Stimme seiner Mutter vergessen, wenn ihr Ruf ihn nach Hause lockte. Das Gesicht seines Vaters, wie er sich im Schein des Feenlichts über ein Buch beugte, ernst und konzentriert. Der Geruch von Frühlingsregen auf dem alten Laub des vergangenen Herbstes ‒ ausgelöscht. Das singende Wiehern der Einhornherde am Tiefen See und die lauten Rufe der Sommerpfeifer, die über den Wipfeln der Eichen tanzten, würden aus seiner Erinnerung
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