Sturm im Elfenland
hin, den sie mit unsicheren Händen ergriff und an die Lippen führte. Tee schwappte über ihre Finger.
Ivaylo schielte über ihre Schulter hinweg in den Spiegel. »Was hast du gesehen?«, fragte er. »Du hast meine Eltern gesehen, oder?«
Alana nickte schwach. »Ich glaube, ja.«
Sverre hob fragend die Brauen. »Ich dachte, deine Eltern seien tot?« Alana blickte erstaunt auf.
Der Junge presste die Lippen aufeinander. Dann hob er die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ich weiß es nicht. Aber sie wären niemals einfach fortgegangen und hätten mich zurückgelassen. Sie müssen tot sein.«
»Erinnerst du dich diesmal daran, was du gesehen hast?«, wandte sich Sverre an Alana. Sie nickte und erzählte von den beiden Jungen auf dem Pferd und von der Elfe, die sie für ihre Mutter gehalten hatte. Die Bilder wurden undeutlich und verschwommen, noch während sie versuchte, sie ihren beiden Zuhörern zu beschreiben.
»Hast du auch etwas hören können?«, drängte Ivaylo. »Was haben meine Eltern gesagt?«
Aber Alana musste ihn enttäuschen. »Ich weiß es nicht, die Bilder waren stumm.«
Sverre rieb sich über die Nase. »Damit kannst du natürlich nicht viel anfangen. Es fehlt eine Möglichkeit, die Bilder, die du empfängst, zu interpretieren, habe ich recht? Kommen sie aus der Vergangenheit?«
»Ich denke, ja«, sagte Alana. »Ivaylo war viel jünger als jetzt.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Wer war der andere Junge?«
»Calixto«, erwiderte Ivaylo. »Mein Freund.« Er schaute finster drein. »Was nützt dieser Spiegel, wenn er bedeutungslose Bilder zeigt?«
Sverre schmunzelte. »Mein lieber Junge, der Spiegel ist nur ein Werkzeug, ein Hilfsmittel. Alana empfängt diese Bilder, und das wird sie möglicherweise auch irgendwann einmal ohne den Spiegel bewerkstelligen können. Sie hat die Fähigkeit dazu, und du hattest recht mit deiner Vermutung, dass ein Sternenstein dem förderlich sein könnte.«
Alana hob die Hand. »Halt«, sagte sie. »Halt, einen Augenblick, Sverre. Du behauptest also, ich würde irgendwelche Bilder aus Ivaylos Vergangenheit sehen?«
Sverre schnalzte mit der Zunge. »Ich bin nicht sicher, was deine Fähigkeiten angeht. Du bist möglicherweise eine Seherin, aber dann müsstest du auch sehen können, was noch geschehen wird ‒ nicht nur, was bereits geschehen ist.« Er klopfte nachdenklich mit dem Daumennagel gegen seine Pfeife. »Oder du kannst Gedanken und Bilder empfangen, die ein anderer im Kopf hat.« Er deutete auf Ivaylo. »Woran hast du gedacht, als Alana in den Spiegel blickte?«
»Das weiß ich nicht mehr«, stotterte der Junge. »Ich habe an ... nein, ich weiß es nicht, Sverre, ehrlich!«
Der Zwerg legte die Pfeife auf den Tisch und wanderte durch die Stube. Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und senkte nachdenklich den Kopf. Dann blieb er stehen und sah Alana fragend an. »Wagst du einen erneuten Blick?«
Alana wollte den Kopf schütteln, doch dann hielt sie inne. Obwohl die Erfahrung anstrengend und sogar quälend gewesen war, übte sie auch einen gewissen Reiz aus. Das war das erste Mal, dass jemand sie für fähig hielt, Magie anzuwenden, die darüber hinausging, ein einfaches Feenlicht zu entzünden. Alana räusperte sich, denn mit einem Mal war ihr Mund vor Aufregung so trocken wie der Boden der Schmiede. »Ja«, sagte sie heiser.
»Gut.« Der Zwerg nahm den Spiegel auf und wischte sorgsam mit dem Tuch über seine Fläche. »Wenn du jetzt hineinschaust, dann denke an jemanden.« Er reichte Alana den Spiegel.
Sie nahm ihn entgegen und hielt ihn unentschlossen in den Händen. »Muss ich etwas tun?«
»Nein, du solltest nur an jemanden denken. Und dann warte ab, was geschieht.« Sverre lächelte sie ermunternd an. »Vielleicht versuchst du dieses Mal, auch etwas zu hören.«
Alana nickte nervös und senkte ihre Augen wieder auf den Spiegel. Ihr Spiegelbild erwiderte ernst und ein wenig besorgt ihren Blick. An wen sollte sie denken?
»Ich habe Heimweh«, sagte Ivaylo leise. »Meine Eltern fehlen mir schrecklich. Und Calixto ‒ er weiß gar nicht, was mit mir geschehen ist. Er muss denken, dass ich tot bin.«
Alana wollte aufblicken und ihm etwas Tröstendes sagen, denn er klang so verloren und gar nicht so abweisend wie sonst. Aber ihr Blick haftete auf dem Spiegel und wollte sich nicht lösen. Jetzt verschwamm ihr Ebenbild und machte einem anderen Platz. Dunkel gekleidete Elfen umringten einen Elfenjungen, der zwischen ihnen auf dem Boden
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