Sturm: Roman (German Edition)
Sturm keine Verwüstungen angerichtet hatte, und sich dort erst einmal ausruhen, bevor sie ihre nächsten Schritte planten.
»Es ist ziemlich dunkel hier drin«, sagte Kinah. »Passt auf, wohin ihr tretet.«
Dirk folgte ihr, während Lubaya sagte: »Das werden wir gleich haben.« Sie kramte in ihrer Tasche, zog eine LED-Taschenlampe hervor und zwängte sich ebenfalls durch die Öffnung. In der nächsten Sekunde wurde der Hohlraum hinter der Mauer, der einmal eine kleine Halle gewesen sein mochte, in helles Licht getaucht.
Eine zentimeterdicke Staubschicht bedeckte den Boden – und auch die Skelette, die in einigen Metern Entfernung wie achtlos hingeworfen dalagen. Der Strahl der Taschenlampe wanderte über ein Durcheinander aus bleichen, abgenagten Bein- und Armknochen.
Dirk blieb wie erstarrt stehen. Ratten. Er war sich ganz sicher, dass es Ratten gewesen waren, die diese Knochen abgenagt hatten. Vielleicht war sogar noch Fleisch an den Knochen, noch Leben in den Körpern gewesen, als die Ratten über sie hergefallen waren. Die Vorstellung, wie sich Ratten in zuckende Arme und Beine verbissen, in Menschen, die man gefesselt zurückgelassen und damit den widerlichen Nagern zum Fraß vorgeworfen hatte, trieb ihm den kalten Schweiß auf die Stirn.
»Ist es das, was du uns zeigen wolltest?«, fragte Lubaya.
»Ach was, doch nicht ein paar alte Skelette …« Kinah zuckte mit den Schultern. »Wir müssen dort entlang.« Sie deutete mit den Fingern auf die Spur, die ihre eigenen Füße im Staub hinterlassen hatten. »Es ist nicht weit.«
»Wie hast du dich ohne Taschenlampe hier drin orientieren können?«, hörte Dirk Lubaya fragen. Nicht etwa: »Gibt es hier Ratten?« Dabei wäre das die naheliegende Frage gewesen.
Kinah lächelte flüchtig. »Du weißt doch: Ich habe Augen wie eine Katze.«
»Soso.« Lubayas Stimme klang belustigt. »Aber im Dunkeln wirst auch du nicht sehen können.«
»Stimmt«, antwortete Kinah. »Hast du nicht die Kerze bemerkt, die auf dem Schutt neben der Öffnung lag? Ich hatte drei Kerzen aus meinem Materialkoffer mitgenommen, das ist das ganze Geheimnis. Aber vielleicht wäre es besser gewesen, gar nicht erst hinter die Mauer zu blicken. Dann wäre mir einiges erspart geblieben …«
Und mir auch, dachte Dirk.
Er rührte sich nicht vom Fleck, während die beiden Frauen weitergingen. Sein Geheimnis war, dass er es nicht fertigbrachte, einen Raum zu durchqueren, in dem Ratten Menschen annagten.
Als Kinah vier oder fünf Schritte von ihm entfernt war, blieb sie plötzlich stehen und drehte sich zu ihm um. »Was ist mit dir?«
»Akuyi ist verschwunden«, flüsterte Dirk. »Vor sechs Wochen schon. Ich habe sie überall gesucht, die Polizei eingeschaltet, einen Privatdetektiv engagiert …«
»Ich weiß«, sagte Kinah leise. »Lubaya hat mich auf dem Laufenden gehalten.«
»Hast du eine Ahnung …?«
Kinah schüttelte den Kopf. Auf einmal wirkte sie schrecklich müde und erschöpft. »Nein, ich habe keine Ahnung, wo sie steckt.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Es muss schwer für euch beide gewesen sein, dass ich euch ohne ein Wort verlassen habe. Aber … es ging nicht anders.«
»Vielleicht konnte Akuyi es ja nicht länger ertragen«, sagte Dirk bitter. »Vielleicht wollte sie dich suchen und ist deswegen abgehauen.«
Kinah biss sich auf die Unterlippe. Er hatte vergessen, dass sie das tat, dass er diese Unart von ihr übernommen hatte. »Wenn du mir Vorwürfe machen willst …«
»Ich will dir keine Vorwürfe machen«, fiel ihr Dirk ins Wort. »Ich wollte das überhaupt nicht erwähnen. Vergiss es.«
»Aber wenn du doch meinst …«
»Akuyi ist bestimmt nicht weggelaufen, um dich zu suchen«, sagte Dirk. Fast hätte er noch hinzugefügt: »Sie ist ja nicht wie du. Sie haut nicht einfach ohne ein Wort ab.«
Stattdessen biss er sich ebenfalls auf die Unterlippe.
Aber das nutzte nichts, denn Kinah sah ihm seine bösen Gedanken an. So, wie sie es schon immer getan hatte.
»Du hast dich sehr gut um sie gekümmert«, sagte sie. Sie klang beherrscht, ihre Stimme zitterte jedoch leicht – ein Zeichen dafür, dass sie sich nicht mehr lange in der Gewalt haben würde. »Dafür danke ich dir.«
Etwas Ernüchternderes hätte sie nicht sagen können. Sie dankte ihm, wie man einem Exmann dankt, für den man nichts mehr empfindet oder, schlimmer noch, den man lästig und nervend findet, aber wegen eines gemeinsamen Kindes bei Laune zu halten versucht.
»Du müsstest mir
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