Sturm: Roman (German Edition)
entdecken. Aber da waren nur Felsbrocken, jede Menge Splitter und Staub, und Steine, die von oben herabregneten und in tausend Stücke zersprangen.«
»Es war schlimm«, pflichtete ihm Lubaya bei. »Und wir mussten weiter. Der Gang, in dem wir standen, bebte und hätte jeden Moment einstürzen können.«
»Du musst Dirk nicht verteidigen«, sagte Kinah. »Ich kann mir eure Situation sehr gut vorstellen. Aber trotzdem: Wenn es umgekehrt gewesen wäre, hätte Jan keinen Augenblick gezögert, nach Dirk zu suchen.«
Dirk dachte daran, wie sich Olowskis Kopf mit wehenden Haaren zu ihm in den Gang gereckt hatte. Kurz bevor ihn die Böen endgültig von den Beinen gerissen und irgendwo gegen eine Felswand oder einen Vorsprung geschmettert hätten, war Jan ihm trotz der Gefahr zu Hilfe gekommen, hatte ihn gepackt und gemeinsam mit Lubaya in die Sicherheit hinter der metallgestützten Öffnung gezogen. Wenn er nicht gewesen wäre …
»Aber du bist ja schon immer den Weg des geringsten Widerstands gegangen«, fuhr Kinah fort. »Sich bei Schwierigkeiten verkriechen und zur Flasche greifen – das ist deine Strategie.«
»Kinah, bitte …«
Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ab. »Wenn du zu feige bist, uns zu begleiten, dann bleib halt hier und warte, bis die großen Mädchen zurückkommen«, murmelte sie und machte einen Schritt in Richtung der Skelette.
»Ich denke ja gar nicht daran!« Dirk folgte ihr entschlossen. Staub wirbelte unter seinen Füßen auf und kitzelte ihn in der Nase. »In welcher Beziehung stehst du überhaupt zu diesem Jan?«
Er sagte es aus reinem Trotz, und kaum, dass ihm der Satz über die Lippen gekommen war, erkannte er, dass er nichts Blöderes hätte von sich geben können.
Kinah hielt inne, wirbelte herum und funkelte ihn an. »Jan ist in den letzten Jahren der wichtigste Mann in meinem Leben gewesen, wenn du das wissen willst. Allerdings auf ganz andere Art, als du vermutest. Und wenn dir das nicht passt, leg den Rückwärtsgang ein und verschwinde. Dann will ich dich nämlich nie wiedersehen!«
Dirk biss sich auf die Unterlippe. So viele Worte wollten aus ihm hervorsprudeln, so viel Unsinn, so vieles, was sich in all den Jahren angestaut hatte, in denen er Kinah vermisst und manchmal sogar beinahe gehasst hatte. Aber er wusste genau, dass er jetzt besser schwieg.
Kinah erwartete offensichtlich auch keine Antwort. Sie schloss mit schnellen Schritten zu Lubaya auf, die schon ein Stück weitergegangen war. Der Strahl der Taschenlampe huschte über tönerne Gefäße, geflochtene Sitzkissen und zwei Kisten, die aussahen, als stammten sie von einem Piratenschiff. Dirk spähte misstrauisch hinüber zu den im Halbdunkel liegenden Skeletten. Huschte da nicht etwas davon? Vielleicht ein widerlicher Nager mit nacktem Schwanz und scharfem Gebiss?
Er zwang sich, den Blick von der Stelle zu lösen, die im flackernden Licht zu gespenstischem Leben zu erwachen schien. Schlimmer konnte es wirklich kaum noch kommen. Kinah war nicht nur wütend auf ihn, sie verachtete ihn, weil sie ihn für einen Feigling hielt – und sein schlechtes Gewissen gab ihr insgeheim recht. Außerdem bestand sie darauf, in ein rattenverseuchtes Loch vorzudringen, in dem vielleicht dutzende, wenn nicht hunderte von Nagern nur darauf warteten, über sie herzufallen.
»Hier ist es.« Kinah nahm Lubaya die Taschenlampe aus der Hand.
Dirk ahnte, was er gleich im Lichtstrahl sehen würde. Ein erbärmlicher Gestank wehte ihn an – derselbe Gestank, der ihm am Abend zuvor im Keller unter Olowskis Bungalow den Atem geraubt hatte.
Der Gestank des Todes.
Kapitel 18
Der fast weiße Lichtstrahl glitt zitternd über eine rissige, schlecht verputzte Wand und blieb an einer Gestalt hängen, die auf dem Boden lag. Es hätte ein Mann sein können, der sich hier in einer vermeintlich abgeschiedenen Ecke zur Ruhe gelegt und eine dünne blaue Decke über sich gezogen hatte, um all das Schreckliche zu vergessen, das zuvor geschehen war. Oder es hätte eine Verletzte sein können, die man auf eine Liege gebettet hatte und für die man nun Hilfe holte.
Aber es war nichts von alledem. Es war eine Leiche.
Sie war von Kopf bis Fuß in blaue Folie gewickelt, was ihr etwas entsetzlich Fremdartiges gab. Dirk konnte nicht einmal sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, obwohl das Gesicht relativ gut zu erkennen war.
Was für ein Gesicht! Der Mund weit aufgerissen, die Wangen hohl – ein stummer Schrei des Entsetzens im
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