Sturm: Roman (German Edition)
erschlagen oder vom Sturm hinweggerissen. Aber sieh selbst.«
Jan tippte mit dem Mittelfinger auf eine Taste, und direkt vor und über ihm, zwischen dem Schreibtisch und der gegenüberliegenden Wand, fauchte plötzlich der Wind, materialisierten sich Menschen wie aus dem Nichts, entstanden schemenhafte, flackernde Umrisse einer gespenstischen Szenerie, die sich nach und nach verfestigten. Es war eine Gruppe ärmlich gekleideter Frauen und Kinder, die über eine Lichtung hetzte, ausgemergelte Gestalten mit dreckigen und vor Angst verzerrten Gesichtern. Einige Kinder weinten und schrien, aber das ging unter im Geräusch dessen, was hinter ihnen mit unbändiger Gewalt heranraste.
Es war keine der Windhosen, wie sie in dieser Gegend schon immer üblich gewesen waren, es war ein ausgewachsener Wirbelsturm. Wie die vernichtende Faust Gottes fegte er über den Wald, in wildem, nicht vorhersehbarem Zickzackkurs riss er Bäume aus der Erde, sog Büsche, Blumen, Farne, Erdreich in sich ein und zerschmetterte, was sich ihm in den Weg stellte.
Ein kleiner Junge, höchstens fünf Jahre alt, stolperte über eine Wurzel und fiel. Seine Mutter, schon ein paar Schritte weiter, blieb stehen, drehte sich zu ihm um und schrie etwas, das im Tosen des Sturms unterging. Der Junge versuchte, sich aufzurappeln, fiel wieder hin, schien durch eine Mischung aus Entkräftung und Entsetzen nicht in der Lage zu sein, von selbst auf die Beine zu kommen. Er war abgemagert, seine Kleider hingen in Fetzen. In seinen Augen funkelte die nackte Angst.
»Mama!«, brüllte er. »Mama!«
Die Gruppe der Frauen und Kinder hatte mittlerweile das Ende der Lichtung erreicht und stürzte ohne Rücksicht auf Verluste durch Rankengewächse und scharfdornige Sträucher, die hier zwischen den Bäumen ein fast undurchdringliches Dickicht bildeten. Als die ersten Ausläufer des Wirbelsturms in die Sträucher und Gräser fuhren, ging ein Zittern und Beben durch das Buschwerk. Mütter, die ihre kleinen Kinder bislang an der Hand mitgeschleift hatten, zerrten sie nun hoch, pressten sie an sich – und stürmten dann mitten hinein in das Gesträuch, das von den Voranlaufenden geknickt worden war. Zweige schnellten zurück, Dornen rissen blutige Kratzer in Gesichter, Hände und Arme.
All das ging mit gespenstischer Geschwindigkeit vonstatten – und mit einer Entschlossenheit, wie sie nur nackte Todesangst erzeugen kann. Die Frau hätte zu ihrem Jungen zurücklaufen, ihn hochreißen und mitnehmen müssen. Doch sie tat nichts dergleichen. Stattdessen stand sie stocksteif da und starrte auf das unglaubliche Schauspiel, das sich ihr bot.
Der Wirbelsturm hatte abgedreht, schien an der Lichtung vorbeiziehen zu wollen. Die tiefschwarze Säule bog und wand sich.
Wäre Kinah an der Stelle der Frau gewesen, hätte sie gewusst, was zu tun war. Sie hätte sich ihren Jungen geschnappt und wäre wie von tausend Dämonen gehetzt losgerannt. Nicht in die Richtung, in der sich gerade die letzten Nachzügler ins umtoste Buschwerk drückten, sondern dem Tornado entgegen, weil dort die größte Chance bestand, seiner vernichtenden Gewalt zu entkommen – sollte er in einer Kurve auf die Lichtung zurasen.
Die Mutter des Jungen schien zu dem gleichen Ergebnis zu kommen. Sie rannte los, flog förmlich über das Gras und streckte die Hände vor. Der verwirrte, ängstliche Ausdruck im Gesicht des Jungen wich unbändiger Freude. In seinen Augen blitzten Vertrauen und die Gewissheit, dass seine Mutter ihn retten würde.
Sie nahm sich nicht die Zeit, liebevoll nach ihm zu greifen, sondern zerrte ihn mit einem fast brutalen Ruck vom Boden hoch. Sie schwankte leicht, und als sich der Junge um ihren Hals klammerte, kam sie für ein paar Schritte aus dem Tritt. Doch dann lief sie in die Richtung los, die auch Kinah gewählt hätte.
Aber es war zu spät. Der Wirbelsturm raste heran. Es toste und donnerte wie bei einem Weltuntergang, und genau das war es auch, zumindest für die Frau und ihren Sohn. Sie hetzte in Panik weiter, und da war der Wirbel heran, entwurzelte, was bislang verschont geblieben war, schleuderte eine dichte Wolke aus Dreck, Gräsern, Pflanzen, Zweigen, Ästen auf – all das, was seiner entfesselten Kraft nicht widerstehen konnte …
Und dann erfasste die Urgewalt die Mutter, riss ihr den Sohn aus den Armen und trug ihn fort …
Die Holografie fiel in sich zusammen, und mit ihr das Donnern und Wummern, das den Raum erfüllt hatte.
Kinah drückte sich tief in das
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