Sturm: Roman (German Edition)
Ledersofa. Ihre Hände waren schweißnass und ihr Herz raste. Jan saß mit ernster, angespannter Miene hinter dem Schreibtisch. Plötzlich drang leise, meditative Musik aus verborgenen Lautsprechern, als könnte sie das Grauen der Szene mindern. Doch Kinah hatte das Gefühl, selbst auf der Lichtung gewesen zu sein, auch wenn die Projektion manchmal geflackert hatte. Sie war selbst Mutter, sie wusste, wie man sich fühlte, wenn man sein Kind aus einer lebensbedrohlichen Situation retten wollte und erkennen musste, dass das, was man tat, nicht genügte, dass man zu spät kam.
Kinah hoffte nur, dass sie es besser machen würde und ihr eigen Fleisch und Blut würde schützen können.
»Du meine Güte«, stieß sie schließlich hervor.
»Ja.« Jan nickte. »Es war eine Katastrophe von geradezu biblischen Ausmaßen.«
»Dann müsste etwas darüber in den Geschichtsbüchern stehen!«
»Ja«, gab Jan zu. »Doch weit gefehlt.«
»Warum nicht?«, verlangte Kinah zu wissen.
»Darauf gibt es eine kurze und eine etwas längere Antwort. Und bevor du jetzt ungeduldig wirst, erzähle ich dir die kurze Fassung.« Jan lächelte leicht.
»Also los!«
Er beugte sich ein Stück vor. Alles Jungenhafte war aus seinem Gesicht verschwunden. »Die Katastrophe traf ein besonders gebeuteltes Gebiet. Sämtliche Strukturen in diesem Landstrich waren im wahrsten Sinne des Wortes zerschlagen. Ganze Gegenden waren entvölkert. Die Felder wurden nicht bestellt – oder die, die bestellt wurden, konnten nicht mehr abgeerntet werden. Die einheimische Bevölkerung hatte in stabilen Gemeinschaften gelebt, doch diese waren auseinandergerissen worden. Und so kam es, dass anfangs niemand begriff, dass der Sturm mehr als nur ein örtlich begrenztes Ereignis war. Die Menschen, die von ihm getroffen wurden und überlebten, glaubten daran, dass er ihr persönliches Schicksal war, so wie der Keulenhieb eines Plünderers oder eine tödliche Seuche.«
»Aber irgendwann müssen sie doch gemerkt haben, dass mehr dahintersteckte!«
»Natürlich«, bestätigte Jan. »Und darüber gibt es auch Aufzeichnungen. Aber nur einige wenige, die voller Widersprüche sind und sich zum größten Teil in Privatsammlungen befinden. Bislang haben sie noch nicht die Aufmerksamkeit namhafter Historiker erregt – vielleicht deshalb, weil immer alle davon ausgegangen sind, dass derartige Katastrophen Deutschland gar nicht heimsuchen können.«
Kinah runzelte die Stirn. »Wieso gibt es nur wenige Aufzeichnungen?«
»Weil es im Interesse der Mächtigen lag, den Vorfall totzuschweigen.« Jan lachte humorlos auf. »Damals lief der gleiche Mechanismus ab wie heutzutage, in unserem ach so aufgeklärten Zeitalter, in dem die Tourismusbranche und die Politik zu ihrem gemeinsamen Nutzen Hand in Hand arbeiten und dabei leichtfertig das Leben unschuldiger Menschen aufs Spiel setzen.«
»Aber warum?«, hakte Kinah nach. »Was für einen Nutzen haben die Mächtigen damals gehabt?«
»Du meinst, nach dem Tod von König Gustav Adolf und Wallensteins Ermordung? Als ganz Deutschland verwüstet war, die Landwirtschaft brachlag und die Städte um ihr Überleben rangen?« Jan deutete auf die Bücherwand, die Kinah einrahmte. »Dort stehen etliche Bücher, die sich mit den Folgen des Dreißigjährigen Krieges beschäftigen. Kannst du dir vorstellen, dass es hundert Jahre dauerte, bis sich die Wirtschaft vollkommen regeneriert hatte und die Bevölkerungszahl von vor dem Krieg erreicht worden war – und das auch nur, weil die deutschen Fürsten eine intensive Einwanderungspolitik betrieben?« Kinah schüttelte den Kopf. »Um es auf den Punkt zu bringen: Der Dreißigjährige Krieg war für die Menschen in Mitteleuropa viel, viel schlimmer als der Erste und Zweite Weltkrieg zusammen.«
»Das mag ja alles sein«, sagte Kinah. »Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum man deshalb eine Sturmkatastrophe verschweigen sollte.«
»Ja, das scheint auf den ersten Blick keinen Sinn zu ergeben«, pflichtete ihr Jan bei. »Im Jahr sechzehnhundertdreiundvierzig neigte sich das, was man einen Krieg nannte, was in Wirklichkeit aber eine Völkervernichtung war, dem Ende zu. Der Kampf zwischen Protestanten und Katholiken hatte sich längst verselbstständigt. Dann brach plötzlich dieser Sturm herein wie ein Strafgericht Gottes. Und was, glaubst du wohl, haben die Menschen daraus gemacht?«
»Das, was sie immer machen«, antwortete Kinah. »Die Bevölkerung hat darunter gelitten, und die Mächtigen haben
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