Sturm: Roman (German Edition)
einem Zopf gebunden, auf der Nase eine altmodische Nickelbrille, die so weit heruntergerutscht war, dass sein spöttischer Blick sie über den Rand hinweg fixierte.
»Ich habe dich gar nicht gehört«, stellte Kinah fest. »Eigenartig – normalerweise kriege ich es mit, wenn an der nächsten Straßenecke eine Ameise hustet.«
Jans Grinsen vertiefte sich. »Ich habe mich bemüht, leise zu sein. Außerdem lässt es der Wind ganz schön scheppern. Womit wir auch schon beim Thema wären … Aber komm, lass uns erst mal ins Haus gehen.«
***
»Seid ihr euch da zum ersten Mal nahegekommen?«, fragte Dirk bitter. »Und hast du dann mit ihm das zweite Kind gezeugt?«
»So ein Quatsch!« Kinahs Augen blitzten. »Ich habe dir doch gesagt, dass du mich nicht unterbrechen sollst! Außerdem solltest gerade du dich zurückhalten, was Jan betrifft!«
Dirk machte den Mund auf – und schloss ihn schuldbewusst.
»Könnt ihr eure Wiedersehensfeier vielleicht auf einen anderen Zeitpunkt verschieben?« Rastalocke deutete in den dunklen Gang. »Ich schätze, wir bekommen gleich Besuch.«
***
Der Keller, in den Jan sie führte, war größer und verwinkelter, als sie erwartet hatte – und nicht nur das. Er bestand aus zwei Teilen: einem herkömmlichen Keller, der an der Außenmauer des Hauses endete, und einem deutlich größeren Raum, der dort erst begann und dessen Zugang hinter einer beweglichen Schrankwand verborgen war. Während die Schrankwand hinter ihnen automatisch wieder an ihren Platz glitt, erzählte Jan Kinah, dass sein Vater den von seinem Urgroßvater unter der Rasenfläche des Grundstücks angelegten Keller hatte erweitern lassen, um hier in Ruhe seine Forschungen betreiben zu können. Sein Vater war es auch gewesen, der Ende der siebziger Jahre in einem klimatisierten Kellerraum eine PDP-11 von Digital Equipment hatte aufbauen lassen, eine damals hochmoderne Großrechneranlage, die ihre Daten auf dicken Magnetbändern aufzeichnete und die Rechenoperationen in klobigen Metallgehäusen vollzog.
Die technischen Einzelheiten interessierten Kinah nicht besonders, ganz im Gegenteil zu dem Kellergewölbe. Es war eine Art unterirdisches Labor, dessen Bau und Ausstattung ein kleines Vermögen gekostet haben mussten. Darüber hinaus faszinierte sie die Tatsache, dass es auch in Jans Familie eine starke Ahnenkette gab, Männer und Frauen, die jeweils mit den neuesten technischen Errungenschaften Wetterbeobachtungen durchgeführt hatten, um ihre eigenen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Dies vermittelte ihr ein Gefühl von Vertrautheit, das weit über das hinausreichte, was sie ansonsten für einen Mann der Wissenschaft empfunden hätte.
Jan setzte sich hinter einen wuchtigen alten Schreibtisch, der aussah, als wäre der Keller irgendwann um ihn herumgebaut worden. Das, was er auf dem Tisch vor sich hatte, war allerdings nicht im Geringsten altmodisch. Es war eine holografische Projektionseinrichtung, die er von einem kleinen Computer aus steuerte, dessen Rechenleistung um mehrere Zehnerpotenzen höher lag als die der riesigen Großrechneranlage seines Vaters.
»Die nächste Katastrophe kommt bestimmt«, murmelte Jan, während seine Finger über die Tastatur huschten. »Wirbelstürme und kleinere Tornados gehören mittlerweile auch in Deutschland zur Tagesordnung, und dabei werden nicht nur in zunehmendem Maße Dächer abgedeckt, Bäume entwurzelt und Autos zerschmettert, sondern auch komplette Siedlungen und Industrieanlagen zerstört. Von der steigenden Zahl der Todesopfer ganz zu schweigen. Aber ich befürchte, dass es bald eine so verheerende Katastrophe geben wird wie sechzehnhundertdreiundvierzig in Brandenburg, Pommern und Oberdeutschland.«
»Von der habe ich noch nie etwas gehört«, warf Kinah ein. Sie hatte es sich auf der Ledercouch bequem gemacht, die in die Bibliothekswand eingelassen war.
»Es war eine schreckliche Zeit damals. Der Dreißigjährige Krieg tobte und hatte große Teile des Landes entvölkert. In weiten Landstrichen überlebte nicht einmal jeder Fünfte das Grauen, das in Form von Krieg, Plünderung und Seuchen über die Menschen kam. Und als hätte das alles noch nicht gereicht, hob ein Sturm an, der fünf Tage und fünf Nächte währte. Dörfer, die bereits geplündert oder gebrandschatzt worden waren, wurden endgültig dem Boden gleichgemacht. Menschen, die sich in den umgebenden Wäldern vor heranziehenden Truppen in trügerischer Sicherheit gewiegt hatten, wurden von Bäumen
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